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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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Schmerz. Sie sollte trivial, alltäglich, gewöhnlich sein. Annie war mit einem anderen fortgegangen, nur das sollte er glauben. Und ich würde nicht gegen die schlimmstmögliche Feindin kämpfen
müssen – eine Tote, die man ersetzen kann, ohne je an sie heranzureichen.
    Paul hat niemals die Wahrheit geahnt.
    Auch nicht über Camille. Oder hat er nicht mit mir darüber gesprochen? Musste er mit diesem schrecklichen Unbehagen leben, mit jedem Jahr mehr von der Frau, die er geliebt hat, in seiner Tochter wiederzufinden, sichtbar, unsichtbar, wie ein quälendes Gespenst, das sich eingenistet hat, wo es nie hätte sein dürfen? Seine Geliebte in seiner Tochter, eine unerträgliche Mischung.
    Dennoch gab es Tage, an denen wir eine schöne Familie waren. Viele sogar. Wir hatten auch große und ehrliche Freude, haben ansteckend, fröhlich gelacht.
    Dann kam die Geburt von Pierre, ein wunderbarer Lichtstrahl in unserem Leben. Pierre ist mein Sohn. Pauls und meiner, unser Sohn.
    Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, habe ich Camille an mich gedrückt, als hätte sie mir dieses Kind geschenkt. Ihr verdanke ich dieses Glück. Ohne sie gäbe es Pierre nicht, da bin ich mir sicher, ich habe dieses Kind bekommen, weil ich nicht darauf wartete, so wie viele »sterile« Frauen.
    Es gab auch das Bemühen von Paul und dann wieder seine Rückfälle.
    Er trank.
    Nie habe ich mir eingestanden, dass das alles miteinander zu tun hatte, aber so war es. Er hat Annie niemals vergessen.
    Er hat sich im Indochinakrieg umbringen lassen. Die Kinder haben sehr darunter gelitten. Ich selbst viel mehr, als ich vermutet hätte.
    Heute ist Camille eine charmante, lebendige und leidenschaftliche Frau. Nicht nur durch ihr Leben, zweifellos
auch durch ihren Beruf. Sie ist Verlegerin. Als sie mir ankündigte, dass sie ein Kind erwarte, wollte ich glauben, sie meine ein neues Buch.
    Auf einen Schlag sind nach all diesen durch Bedenken nur leicht beschädigten Jahren meine Dämonen aufgewacht, sofort, heftig, unverändert.
    Ich war so dumm gewesen, zu glauben, man könne sich einer Tat wie meiner entziehen.
    Was ich erlebt habe, möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Über das Alter bin ich hinaus, und meine Lüge bekommt plötzlich ein neues Antlitz. Bis heute betraf sie nur eine einzige Person: Camille.
    Ich habe niemals in Betracht gezogen, dass meine Lüge mich überdauern würde. Es gehört zu einer Lüge, dass sie aufgedeckt, entlarvt und nicht zu einer unverrückbaren und über jeden Verdacht erhabenen endgültigen Wahrheit wird . Zur Wahrheit für künftige Menschen, die niemals die Möglichkeit haben werden zu wissen. Ich kann all diese Ungeborenen nicht entwurzeln. Um wirklich zu leben, müssen Menschen wissen, woher sie stammen. Wenn ich mir Camille ansehe, finde ich darin die Bestätigung.

    Falls mir also etwas zustoßen sollte – und an diesem Tag werden Sie es erfahren –, bitte ich Sie, Camille alles zu erzählen. Sie sind der Einzige, der es tun kann. Ich weiß, wie schwierig das scheinen mag. Betrachten Sie es als meinen letzten Willen. Ich bitte Sie darum. Sagen Sie ihr alles. Seien Sie aufrichtig. Auch mit dem Schlimmsten, meinem Schlimmsten. Erzählen Sie ihr von ihrer Mutter, ihren Müttern. Und machen Sie sich bloß nicht die Mühe, ihr freundliche, tröstende Worte zu sagen. Entschuldigen Sie sich nicht, weder für mich noch für sich. Sie haben sich
nichts vorzuwerfen, und ohnehin wäre nichts angemessen für ihren Kummer, vielleicht auch ihren Hass. Aber sorgen Sie sich nicht. Ich bin sicher, sie wird es verwinden, meine Tochter ist stark. Unverwüstlich . Wie ihre Mutter. Und sollte sie ins Wanken geraten, so wird das Kind, das sie erwartet, sie davor bewahren unterzugehen, glauben Sie mir. Ich bitte Sie, sagen Sie ihr, wie sehr ich sie liebe. Adieu, Monsieur. Adieu, junger Mann. Und verzeihen Sie mir.

    Alles war klar. Schmutzig, aber klar. Nachdem sie ihren Bericht beendet hatte, stand Ihre Mutter auf und ging. Ich sah ihr hinterher. Sie lief langsam, niedergeschlagen, aber sehr aufrecht, als wisse sie, wohin sie ging. Sie wusste, was sie tun würde, daran zweifelte ich nicht. Dieser Bericht war der Schlusspunkt unter ihr Leben. Ich hätte nichts tun können, um sie daran zu hindern.

    Ich saß die ganze Nacht an meinem Schreibtisch und füllte die Seiten dieses Schulhefts, um getreulich wiederzugeben, was sie mir erzählt hat. Mir war, als würde ich viele Jahre zurückgehen. Wie damals, als ich an meinem Schreibtisch

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