Das Geheime Vermächtnis
stämmige Frau reitet auf ihrem Pferd vorbei, in dessen Schweif silbernes Lametta eingeflochten ist.
Wir gehen über die braunen Wiesen hinauf zum Grabhügel und schrecken zwei Dutzend glänzende Saatkrähen auf, die eben noch zielstrebig herumstolzierten. Der Wind weht sie davon, und aus der Ferne sehen sie aus wie ausgefranste Einschusslöcher im Himmel. Beth hakt sich bei mir unter und geht mit schwungvollen Schritten.
»Du wirkst heute so fröhlich«, sage ich vorsichtig.
»Bin ich auch. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
»Ach? Was für eine Entscheidung denn?« Wir haben den Grabhügel erreicht. Beth lässt meinen Arm los, erklimmt mit drei langen Schritten den Hügel und dreht sich um, um über meinen Kopf hinweg in die Ferne zu schauen.
»Ich gehe. Ich bleibe nicht hier«, sagt sie und breitet mit kindischer, theatralischer Geste die Arme aus. Sie holt tief Luft und stößt übertrieben laut den Atem aus.
»Was meinst du damit? Wo gehst du hin?«
»Nach Hause natürlich. Gleich nachher. Ich habe schon gepackt!« Sie lacht, als fühlte sie sich wild, abenteuerlustig. »Ich fahre diese Straße entlang«, sagt sie, kneift die Augen zusammen und deutet auf die Reihe hoher Pappeln, die an der Landstraße entlang aus dem Ort hinausmarschieren.
»Das kannst du nicht machen!« Die Vorstellung, allein in diesem Haus zu sein, erfüllt mich mit einem Grauen, das ich nicht definieren kann. Lieber würde ich bis auf den Grund des Teichs tauchen und mich von ihm verschlucken lassen. Ich spüre so etwas wie Panik im Magen flattern.
»Natürlich kann ich. Warum noch länger bleiben? Was tun wir hier überhaupt? Ich kann mich nicht einmal erinnern, warum wir hergekommen sind. Du vielleicht?«
»Wir sind hergekommen, um … wir sind hier, um uns über alles Mögliche klar zu werden. Und … zu entscheiden, was wir tun wollen!« Ich finde nicht die richtigen Worte.
»Komm schon, Erica. Keine von uns beiden will hier leben.« Sie lässt die Arme sinken und starrt mich plötzlich an. »Willst du doch nicht, oder? Du willst nicht hier wohnen? Hierbleiben?«
»Das weiß ich noch nicht!«
»Aber … das kannst du nicht wollen. Es ist Merediths Haus. Alles daran schreit Meredith. Und dann ist da noch … das andere.«
»Henry?«, frage ich. Sie nickt, nur ein einziges Mal, eine knappe, scharfe Bewegung. »Das ist unser Haus, Beth. Es gehört jetzt dir und mir.«
»O Gott, du willst doch hierbleiben. Du willst tatsächlich bleiben, oder?« Sie ist völlig fassungslos.
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nicht für immer. Aber für eine Weile. Ich weiß es nicht. Aber bitte geh nicht, Beth! Noch nicht. Ich bin … ich bin hier noch nicht fertig. Ich kann noch nicht weggehen, und allein kann ich hier nicht bleiben. Bitte. Bleib noch ein bisschen.« Oben auf dem Grabhügel sinkt Beth in sich zusammen. Ich habe sie angestochen, und alle Luft entweicht aus ihr. Eine Weile schweigen wir. Der Wind rollt über die Anhöhe und lässt das trockene Gras zittern. Ich sehe Beth schaudern. Sie sieht schrecklich einsam aus da oben.
Schließlich kommt sie mit gesenktem Blick wieder herunter.
»Es tut mir leid«, sage ich.
»Was soll das heißen, du bist noch nicht fertig?« Ihre Stimme klingt jetzt tonlos, leblos.
»Ich muss … herausfinden, was passiert ist. Ich muss mich daran erinnern.« Eine Halbwahrheit. Ich kann ihr nichts von ihrem Splitter sagen. Sie darf nicht wissen, worauf ich hinarbeite. Sie würde sich mir sofort entziehen, damit ich sie nicht berühren kann, genau wie Eddie damals mit seinem geschwollenen Finger.
»Woran erinnern?«
Ich starre sie an. Sie muss doch wissen, wovon ich spreche.
»An Henry , Beth. Ich muss mich erinnern, was mit Henry passiert ist.« Jetzt funkelt sie mich an, und ihre Augen reflektieren den grauen Himmel. Sie sieht mir forschend ins Gesicht, und ich warte.
»Du erinnerst dich sehr wohl daran, was passiert ist. Lüg nicht. Du warst alt genug.«
»Aber ich weiß es nicht mehr. Wirklich nicht«, erkläre ich. »Bitte sag es mir.« Beth schaut weg, über die Dächer und Rauchfähnchen des Dorfes hinweg nach Osten, als wollte sie sich dorthin versetzen.
»Nein. Ich werde es dir nicht erzählen«, sagt sie dann. »Ich werde es niemandem erzählen. Niemals. «
»Bitte, Beth! Ich muss es wissen!«
»Nein! Und wenn … wenn du mich liebst, dann hör auf, danach zu fragen.«
»Weiß Dinny es?«
»Ja, natürlich weiß Dinny es. Warum fragst du nicht ihn?« Sie wirft mir einen
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