Das Geheime Vermächtnis
kurzen Blick zu. Darin liegt eine kühle Feindseligkeit. Nur ganz kurz, dann ist sie wieder verschwun den. »Aber du weißt es auch. Und wenn du dich wirklich nicht daran erinnern kannst, dann ist das vielleicht ganz gut so.« Sie geht davon, die Anhöhe entlang in Richtung Haus.
Am Teich bleibt sie stehen. Soweit ich weiß, war sie seit unserer Rückkehr noch nicht wieder hier, und der Anblick lässt sie so abrupt innehalten, dass ich beinahe in sie hineinlaufe. Der Wind streicht über die Wasseroberfläche und macht sie stumpf und hässlich. Ich erwarte, Beth weinen zu sehen, aber ihre Augen sind trocken, der Blick hart. Die traurigen Falten in ihrem Gesicht wirken tiefer als je zuvor. Sie starrt in den Teich hinab.
»Ich hatte solche Angst, als du zum ersten Mal hier drin geschwommen bist«, murmelt sie so leise, dass ich sie kaum höre. »Ich dachte, du würdest es nicht schaffen, wieder herauszukommen. Wie der Igel damals, im Teich zu Hause. Weißt du noch? Er war herumgeschwommen, bis er zu erschöpft war und nicht mehr schwimmen konnte, und dann ist er einfach ertrunken. Die vielen Lehrfilme, die sie uns in der Schule gezeigt haben – dass man nie in alten Kiesgruben oder Flüssen schwimmen darf. Ich dachte, wildes Wasser ohne Chlor wäre irgendeine grässliche, lauernde Kraft, die wartet und einen beobachtet und kleine Kinder frisst.«
»Ich weiß noch, dass du mich angeschrien hast wie eine Irre.«
»Ich hatte Angst um dich«, sagt sie. »Und jetzt verbringst du anscheinend die ganze Zeit damit, Angst um mich zu haben. Außer heute. Warum willst du unbedingt, dass ich bleibe? Du musst doch sehen, dass es nicht gut für mich ist, hier zu sein?«
»Nein, ich … ich glaube, es könnte gut für dich sein«, zwinge ich mich zu sagen.
»Was soll das heißen?«, fragt sie düster. Mein Herz beginnt zu hämmern.
»Genau das, was ich gesagt habe. Du kannst nicht immer weiter davonlaufen, Beth! Bitte! Wenn du nur darüber reden würdest …«
»Nein! Das habe ich dir doch schon gesagt – immer und immer wieder. Ich werde nicht mit dir darüber sprechen, mit niemandem!«
»Warum nicht mit mir? Ich bin deine Schwester, Beth. Egal, was du mir erzählst, ich hätte dich deswegen nicht weniger lieb! Egal, was es ist«, wiederhole ich bestimmt.
»Das glaubst du also, ja? Dass ich irgendetwas Abscheuliches in mir trage, das ich verbergen will?«, flüstert sie.
»Nein, Beth, das glaube ich nicht! Du hörst mir nicht richtig zu! Aber du verbirgst irgendetwas – das kannst du nicht abstreiten. Ich habe keine Geheimnisse vor dir!«
»Jeder hat Geheimnisse, Erica«, faucht sie. Das stimmt, und ich wende den Blick ab.
»Ich will doch nur, dass wir diesen Ort endlich hinter uns lassen können …«
»Gut! Genau das will ich auch! Also tun wir’s einfach – gehen wir.«
»Weggehen ist nicht dasselbe wie etwas hinter sich lassen, Beth! Sieh dich nur an – seit wir wieder hier sind, habe ich das Gefühl, mit einem Gespenst unter einem Dach zu wohnen! Du bist unglücklich und offenbar fest entschlossen, es auch zu bleiben!«, schreie ich.
»Wovon sprichst du eigentlich?«, schreit Beth zurück und breitet wütend die Hände aus. » Du bist doch diejenige, die fest entschlossen ist, mich unbedingt hierzubehalten – du bist fest entschlossen, mich unglücklich zu machen! Ich bin überhaupt nur hergekommen, weil du mich dazu genötigt hast!«
»Ich bin fest entschlossen, das loszuwerden, was dich fertigmacht, Beth, was auch immer das sein mag. Und es ist hier – ich weiß, dass es hier ist. Hier in diesem Haus – lass mich nicht einfach stehen!« Ich packe sie am Arm und halte sie auf. Beth keucht und weicht meinem Blick aus. Sie ist sehr blass.
»Wenn du mich nicht gehen lässt, werde ich dir womöglich nie verzeihen. Ich weiß nicht, was ich dann tun werde«, sagt sie mit kraftloser Stimme. Erschrocken lasse ich ihren Arm los, aber ich glaube nicht, dass sie das damit gemeint hat. Ich habe Angst davor, was sie tun könnte. Meine Entschlossenheit wankt, aber ich kämpfe darum, sie aufrechtzuerhalten.
»Bitte, Beth. Bitte bleib hier bei mir. Wenigstens bis Neujahr. Lass uns … das irgendwie lösen. Was auch immer es ist.«
»Es lösen?«, wiederholt sie bitter. »Das ist kein Rätsel, Erica.«
»Ich weiß. Aber das Leben kann nicht so weitergehen wie bisher. Das ist unsere Chance , Beth – unsere Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen.«
»Manche Dinge kann man nicht ungeschehen machen, Erica. Je
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