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Das Geheime Vermächtnis

Das Geheime Vermächtnis

Titel: Das Geheime Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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in gar keine Richtung weiterbewegen, bis ich dieses Loch in meinem Kopf gefüllt habe, bis es mir gelingt, Beth den Splitter zu ziehen. Jeder andere Gedanke muss einen Umweg um diese Lücken nehmen, und das geht nicht an. Nicht mehr. Und wenn ich 1904 anfangen und mich von dort aus voranarbeiten muss, dann werde ich das eben tun.
    Durch das Küchenfenster sehe ich Harry, der sich unter den Bäumen am hinteren Ende des Gartens herumtreibt. Es regnet immer noch, inzwischen sogar noch stärker. Er hat die Hände in die Taschen seines Patchwork-Mantels geschoben und steht mit hochgezogenen Schultern da, nass und verloren. Ohne nachzudenken, hole ich Reste aus Kühlschrank und Speisekammer und schneide saftige Scheiben von dem kalten Truthahn mit den angesengten Stummelbeinen ab. Ich bestreiche zwei Scheiben Weißbrot dick mit Mayonnaise und packe Truthahn und Füllung dazwischen, die inzwischen die Konsistenz einer Spanplatte hat. Dann bringe ich Harry das Sandwich, eingewickelt in Alufolie. Ich laufe mit dem Mantel über dem Kopf. Er lächelt mich nicht an, sondern tritt in offensichtlicher, qualvoller Unschlüssigkeit von einem Fuß auf den anderen. Regen tropft von den Enden seiner Dreadlocks. Ich rieche seinen ungewaschenen Körper. Ein sanfter Geruch wie von einem Tier, eigenartig liebenswert.
    »Hier, Harry. Das habe ich dir zum Mittagessen gemacht. Es ist ein Truthahnsandwich«, sage ich und reiche es ihm. Er nimmt es. Ich weiß nicht, warum ich erwartet habe, dass er mit mir spricht, obwohl ich doch weiß, dass er das nicht tun wird. Das ist etwas so fundamental Menschliches, nehme ich an – sich mittels Lärm zu verständigen. »Eddie ist jetzt wieder bei seinem Vater zu Hause, Harry. Verstehst du, was ich sage? Er ist nicht mehr hier«, sage ich, so freundlich ich kann. Wenn ich wüsste, wann Eddie wiederkommt, würde ich ihm das auch gern erzählen. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob wir noch lange hier sein werden. Ich weiß gar nichts. »Sein Vater ist heute gekommen und hat ihn mit nach Hause genommen«, erkläre ich. Harry betrachtet das Sandwich. Regentropfen spielen eine leise, metallische Melodie auf der Alufolie. »Na, iss wenigstens das«, sage ich sanft und tätschele seine Hand, die auf dem Sandwich liegt. »Das bringt dich bis zum Abendessen über die Runden.«
    Beth findet mich im Arbeitszimmer. Ich habe es mir in einem runden Ledersessel gemütlich gemacht. Vorher bin ich auf den Schreibtisch gestiegen, um dieses Buch über Wildblumen vom obersten Regalbrett zu holen. Es brachte eine Kaskade toter Fliegen mit und einen Geruch nach vergangenen Leben. Jetzt liegt es offen und schwer auf meinen Knien, aufgeschlagen bei einer doppelseitigen Darstellung der Gelben Schwertlilie. Iris pseudacorus, auch Sumpflilie oder marsh flag , wie man sie in dieser Gegend nennt. Eine etwas zerzauste, buttergelbe Lilie. Nonchalant hängen die Blütenblätter von hohen Stängeln wie Banner an einem windstillen Tag. Ich habe sie auf den ersten Blick wiedererkannt. Sumpflilien. Marsh flags.
    »Es hat aufgehört zu regnen. Wie wäre es mit einem kurzen Spaziergang?«, fragt Beth. Sie hat sich das Haar geflochten und eine saubere Jeans und einen himbeerroten Pulli angezogen.
    »Unbedingt«, sage ich bass erstaunt. »Ja, gehen wir.«
    »Was liest du da?«
    »Ach, ein Buch über Wildblumen. Oben im Wäscheschrank lagen drei alte Kissenhüllen. Sie sind mit gelben Blumen bestickt, und ich wollte wissen, was für Blumen das sind.«
    »Und?«
    »Sumpflilien. Hier heißen sie auch marsh flags . Klingelt da irgendetwas bei dir?«
    »Nein. Sollte es?«
    »Wahrscheinlich nicht. Ich hole mir nur schnell ein Paar Gummistiefel.«
    Wir gehen nicht besonders weit, denn am Horizont ist der Himmel schon wieder pechschwarz. Nur hinunter ins Dorf und dann hoch zum Grabhügel. Ich bin sicher, dass ich durchs Fenster des Pubs eines der Mädchen von der Sonnenwendparty erkenne. Sie sitzt am Feuer und nimmt gerade ein frisches Bier von einem Mann entgegen, der mit dem Rücken zu mir steht. Ein einladender Schwall Holzrauch und Bier und Stimmengewirr dringt aus der offenen Tür, aber wir gehen vorbei. Heute sind eine Menge Dorfbewohner unterwegs. Auch sie laufen sich die vielen Kuchen und Puddings herunter. Alle grüßen uns, obwohl ich sicher bin, dass niemand uns erkennt. Ein paar Gesichter zupfen an meinem Gedächtnis. Sie reihen sich irgendwo in meine Erinnerungen ein, zu nahtlos, als dass ich sie aussortieren könnte. Eine

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