Das Geheime Vermächtnis
eher du das akzeptierst, desto besser«, flüstert sie. Tränen glänzen in ihren Augen, doch als sie zu mir aufblickt, sind sie auch voller Zorn. »Das kann nicht in Ordnung gebracht werden!«, fährt sie mich an und stürmt davon. Ich zögere kurz, ehe ich ihr folge, und spüre dabei, dass ich zittere.
Den restlichen Tag lang spielen wir Verstecken. Dafür war dieses Haus schon immer bestens geeignet. Der Regen wird schräg an die Mauern geweht, der kalte Wind kriecht durch die Kamine herab. Ich hole Harry herein und mache ihm eine Tasse süßen Tee. Er sitzt am Küchentisch und schlürft ihn von seinem Teelöffel wie ein Kind. Er tropft auf den Boden und füllt den Raum mit dem Geruch von nasser Wolle. Aber ich kann Beth nicht finden, um ihr auch eine Tasse Tee zu bringen. Ich kann sie nicht finden, um sie zu fragen, was sie zum Abendessen möchte, ob sie mal ausgehen will, ob wir uns bei der Tankstelle auf dem Weg nach Devizes ein Video ausleihen sollen. Ich habe das Gefühl, dass das ab jetzt meine Aufgabe ist – ihre Zeit auszufüllen. Da ich sie schon zwinge, diese Zeit hier zu verbringen. Aber sie schleicht sich in diesem Haus davon wie eine Katze, und ich stapfe vergeblich von einem Zimmer ins andere.
Henry hat sie einmal stundenlang in ihrem Versteck sitzen lassen. Hat sie allein, gefangen und in Panik zurückgelassen. Und wieder einmal hat er mich zur Komplizin gemacht. Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein – Caroline lebte damals noch. An diesem Tag war sie auf die Terrasse hinausgeschoben worden. Sie hatte einen mächtigen altmodischen Rollstuhl aus Korbgeflecht – nicht so einen grauen Stan dard-Rollstuhl aus Metall und Kunststoff. Er knarrte und ächzte, wenn sie darin herumgeschoben wurde, und die feinen Speichen glänzten, doch Henry sagte immer, es sei Caroline, die da knirschte, weil sie so alt und schon mumifiziert sei. Ich wusste, dass das Unsinn war, aber trotzdem musste ich jedes Mal, wenn ich dieses Ächzen hörte, an papierdünne, zerreißende Haut denken, an Haare, die zu Staub zerfallen würden, wenn man sie berührte, und an eine Zunge, die in einem verschrumpelten Mund steif und hölzern geworden war. Wir wurden nie gezwungen, sie zu küssen, wenn wir nicht wollten. Dafür hat Mum gesorgt, Gott sei Dank.
Damals war sie schon bettlägerig, aber es war ein schöner Tag, und wir waren alle da – Clifford und Mary und meine Eltern. Caroline wurde an den Tisch geschoben und bekam ihr Mittagessen auf einem Tablett serviert, das in die Halterung an ihrem Rollstuhl passte. Die Haushälterin brachte die Suppe heraus auf die Terrasse, in einer Suppenterrine aus weißem Porzellan, die aussah wie ein riesiger Blumenkohl. Auf dem Tisch standen Kartoffeln, Salat und Schinken. Ich wurde ermahnt, weil ich den Finger in die geschmolzene Butter am Grund der Kartoffelschüssel gesteckt hatte. Meredith half Caroline beim Essen und musste sie manchmal füttern, wie man ein Baby füttert. Meredith runzelte dabei die Stirn und machte schmale Lippen. Carolines Haar war ganz dünn. Ich konnte ihre Kopfhaut darunter sehen, die tat sächlich aussah wie dünnes Papier. Die Unterhaltung plätscherte um sie herum, und ich hielt den Blick sorgsam auf meinen Teller gerichtet. Nur einmal meldete sie sich zu Wort, und obwohl ihre Stimme lauter war, als ich erwartet hatte, krochen die Worte schwerfällig aus ihrem Mund.
»Lebt eigentlich dieser Dinsdale noch?« Sie ließ beim Sprechen die Gabel fallen, als könnte sie nicht so viele Dinge gleichzeitig tun wie reden und dabei etwas in der Hand halten. Die Gabel fiel mit lautem Klappern auf den Steinboden der Terrasse.
»Nein, Mutter. Er lebt nicht mehr«, antwortete Meredith, und in mir brannte das Wissen, dass es in Wahrheit noch viele Dinsdales gab, quicklebendig und keine zweihundert Meter von unserem Tisch entfernt. Aber ich wusste, dass ich bei Tisch den Mund zu halten hatte. Caroline gab einen Laut von sich, hoch und zittrig, der alles Mögliche hätte bedeuten können. Befriedigung vielleicht. »Aber ich glaube, sein Sohn ist noch da«, fügte Meredith hinzu.
»Kannst du ihn denn nicht loswerden, Kind?«, fragte Caroline, und ich war einerseits verblüfft darüber, dass Meredith Kind genannt wurde, und andererseits empört über die Frage. Mir gegenüber am Tisch grinste Henry und trat mir ans Schienbein.
»Ebenso wenig, wie du es konntest«, konterte Meredith.
»Zigeuner«, nuschelte Caroline. »Sie sollten doch weggehen. Sie hätten weiterziehen
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