Das Geheime Vermächtnis
Geschenke niemals geben wird. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fände es eigenartig faszinierend, zu erfahren, ob sie Fußballschuhe in Kindergröße kauft oder versucht, seine Schuhgröße als Erwachsener zu erraten. »Denkst du je an deinen Cousin, Erica? Denkst du noch manchmal an Henry?«, stößt sie hastig hervor.
»Natürlich. Ja, natürlich. Vor allem, seit wir … wieder hier sind.«
»Gut. Gut. Das freut mich«, sagt sie, und ich frage mich, was sie damit meint. Ob sie die Schuld wittert, die um Beth und mich in der Luft hängt wie ein übler Geruch.
»Es gibt also nichts Neues? Über ihn – über Henry?« Lächerlich, so etwas zu fragen, dreiundzwanzig Jahre nach seinem Verschwinden. Aber sie kauft ihm immer noch Geschenke – welchen anderen Schluss soll ich daraus ziehen, als dass sie erwartet, ihn eines Tages zurückzubekommen?
»Nein«, antwortet sie tonlos. Ein einziges Wort. Sie versucht nicht, es näher zu erläutern.
»Eddie war über Weihnachten hier«, erzähle ich ihr.
»Wer?«
»Edward – Beths Sohn.«
»O ja, natürlich.«
»Er ist jetzt elf, genauso alt wie … Na ja, jedenfalls hat er sich prächtig amüsiert. Er ist den ganzen Tag im Wald herumgerannt und jeden Abend völlig verdreckt nach Hause gekommen.«
»Clifford wollte noch ein Kind, weißt du? Nachdem wir Henry verloren hatten. Es wäre vielleicht noch nicht zu spät gewesen.«
»Oh.«
»Aber ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann. Was dachte er denn – dass wir ihn einfach ersetzen könnten wie eine verlorene Uhr?« Sie gibt einen seltsamen, erstickten Laut von sich, der vermutlich ein Lachen sein sollte.
»Nein. Nein, natürlich nicht«, sage ich. Eine weitere lange Pause, ein weiterer tiefer Atemzug von Mary.
»Ich weiß, dass ihr euch nie gut verstanden habt. Ihr Mädchen und Henry. Ich weiß auch, dass ihr ihn nicht mochtet«, sagt sie, plötzlich angespannt und beleidigt.
»Aber sicher mochten wir ihn!«, lüge ich. »Es war nur … na ja, Dinny mochten wir eben auch. Und wir mussten uns gewissermaßen entscheiden.«
»Bist du je auf den Gedanken gekommen, dass Henry sich manchmal nur so aufgeführt hat, weil ihr ihn nie habt mitspielen lassen? Stattdessen seid ihr davongelaufen, um mit Dinny zu spielen.«
»Nein, ich … ich hätte nie gedacht, dass er mit uns spielen wollte. Jedenfalls hat er nie den Eindruck gemacht«, murmele ich.
»Also, ich glaube schon. Ich glaube, es hat ihn sehr verletzt, dass ihr es gar nicht erwarten konntet, von ihm wegzukommen«, erklärt sie resolut. Ich versuche, meinen Cousin so zu sehen – versuche die Art, wie er uns und Dinny behandelt hat, in diesem Licht zu betrachten. Aber es geht nicht – es passt einfach nicht. So war es nicht, so war er nicht. Empörung flammt in mir auf, aber natürlich kann ich sie nicht aussprechen, und das Schweigen summt in der Leitung. »Ich muss jetzt Schluss machen, Erica«, sagt sie in einem einzigen, langen Seufzen. »Es war nett, mit dir zu sprechen. Auf Wiederhören.«
Sie legt auf, ehe ich etwas erwidern kann. Es wirkt nicht zornig oder abrupt. Eher geistesabwesend, als hätte irgendetwas sie abgelenkt. In den Jahren seit Henrys Tod hat sie sich in eine Menge Hobbys und Projekte gestürzt. Gobelin weben, Aquarellmalerei, Astrologie, Frottagetechnik, Ange l sächsische Poesie. Die Genealogie, der Familienstammbaum, hielt sich am längsten – das eine Projekt, das sie tatsächlich durchgezogen hat. Ich frage mich, ob sie das getan hat, um seinen Namen sagen zu können, immer wieder, weil Clifford ihr nicht erlaubte, über ihren Sohn zu sprechen. Henry Calcott, Henry Calcott, Henry Calcott. Sie hat so viel wie möglich über seine Vorfahren herausgefunden, über die Quellen der Bestandteile, aus denen er sich zusammensetzte, als könnte sie ihn nachbauen.
Er ist tot. Da bin ich ganz sicher. Er wurde nicht entführt. Er war nicht der Junge, der in Devizes auf dem Rücksitz eines geparkten Wagens lag. Es war nicht er, den ein geheimnisvoller Landstreicher an der A361 herumgetragen hat. Ich weiß es, weil ich es fühlen kann, ich kann die Erinnerung an seinen Tod fühlen. Ich spüre es am Teich, obwohl ich es nicht sehen kann. Genau so, wie ich im Dunkeln am Weihnachtsfeiertag Dinnys Silhouette wahrnehmen konnte. Wir waren dort, Henry war dort, und Henry ist gestorben. Ich habe einen Umriss. Ich muss ihn nur noch mit Farbe ausmalen. Weil ich nicht weiterkomme, als wäre der Motor abgewürgt. Ich bin blockiert. Ich kann mich
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