Das Geheime Vermächtnis
fest.
Sie lud ihr Köfferchen, das Baby in der Trage und eine Tasche mit Williams Sachen in den Einspänner und fuhr so schnell, wie sie wagte. Sie lenkte das Pferd zwischen Büschen und Gestrüpp hindurch, wie sie es bei Hutch und Corin gesehen hatte. Der North Canadian lag tief zwischen seinen Ufern, und auf der Furt spritzten kühle Wassertropfen von den Rädern auf, die den süßlichen, mineralischen Geruch des Flussbetts mit heraufwirbelten. Caroline legte eine Pause ein, damit sie selbst und das Pferd sich ein wenig ausruhen konnten, und nahm William auf den Arm. Er war immer noch heiß und weinte kläglich, wenn er aufwachte, doch jetzt schlief er. Der Anblick seiner im Schlaf völlig entspannten Züge erinnerte Caroline so sehr an Corins Gesicht, wenn er in seinem Schaukelstuhl eingeschlafen war, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Dass der Gedanke, dies könnte Corins Kind sein, auch nur für eine Sekunde wieder erwachte, verschlug ihr den Atem. Sie setzte sich mit William auf dem Schoß in den Sand und musterte ihn, strich mit dem Zeigefinger von seinem Scheitel bis hinab zu den Zehen. Lange Zehen, die weit auseinanderstanden, genau wie Corins. Er hatte dunkles Haar, aber viel hellere Haut als Magpie und Joe. Seine Augen waren zwar braun, wurden aber von einem grünlichen Ring um die Iris aufgehellt. In der winzigen Furche zwischen seinen Brauen und den geschürzten Lippen über dem winzigen Kinn meinte Caroline Spuren ihres Mannes zu erkennen. Sie drückte das Kind an ihre Brust und weinte. Sie weinte, weil Corin sie betrogen hatte, weil sie ihn verloren hatte und weil es sich so wunderbar, so qualvoll anfühlte, dieses Baby im Arm zu halten.
Der Arzt warf einen einzigen Blick auf Carolines verzweifeltes Gesicht und das Kind in ihren Armen und bat sie rasch herein. Er nahm ihr William ab, untersuchte ihn gründlich und fragte Caroline, welche Symptome die anderen Kranken auf der Ranch zeigten und wie lange die Krankheit dort schon wütete. Er hörte Herz und Lunge des Kindes ab und befühlte die glühende weiche Haut.
»Ich glaube, er wird es überstehen. Das Fieber ist noch nicht zu hoch, und sein Herz schlägt kräftig, also machen Sie sich bitte keine allzu großen Sorgen. Übernachten Sie heute in der Stadt? Gut. Halten Sie ihn schön kühl. Das Wichtigste ist jetzt, das Fieber so rasch wie möglich zu senken. Machen Sie regelmäßig kalte Umschläge. Geben Sie ihm drei Tropfen hiervon auf die Zunge, danach einen Teelöffel Wasser, alle vier Stunden. Das ist ein Antipyretikum – es hilft gegen das Fieber. Und wenn er etwas essen oder trinken möchte, geben Sie ihm etwas. Ich bin zuversichtlich, dass er sich bald erholen wird. Schauen Sie nicht so ängstlich drein! Sie haben ihn rechtzeitig zu mir gebracht. Aber ich muss sofort zur Ranch hinaus, denn wenn diese Krankheit nicht eingedämmt wird, könnte sie einen sehr ernsten Verlauf nehmen. Sie werden mir doch gleich morgen folgen, damit ich noch einmal nach dem Kind sehen kann?« Caroline nickte. »Gut. Ich verordne Ruhe, und zwar Ihnen beiden. Und kalte Wickel für Ihr Kind. Gibt es weitere Kranke auf der Ranch, die so jung sind wie er, oder sehr alt?«, fragte der Arzt, als er sie zur Tür begleitete. Ihr Kind.
»Da sind keine anderen Kinder. White Cloud … sie ist sehr betagt, ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie alt sie ist«, flüsterte sie. »Aber ich fürchte … ich glaube, sie ist bereits tot.« Der Arzt warf ihr einen ungläubigen Blick zu.
»Ich muss sofort aufbrechen und die Nacht über durchreiten – dann bin ich hoffentlich bis Sonnenaufgang dort. Einen Kollegen von mir finden Sie unter dieser Adresse – falls Williams Zustand sich verschlimmern sollte, suchen Sie ihn sofort auf.« Er reichte Caroline eine Karte, nickte knapp und hastete mit eiligen Schritten hinaus.
Caroline schlief nicht. Sie holte eine Schüssel mit kaltem Wasser aus der Küche des Hotels, befeuchtete Tücher und legte sie sacht auf Williams Haut, wie der Arzt sie angewiesen hatte. Sie konnte kaum den Blick von dem Jungen abwenden und studierte jeden seiner Gesichtszüge, jedes Haar auf seinem Kopf. Wie besessen blickte sie immer wieder auf die Uhr, um ihm pünktlich die nächste Dosis Tropfen zu verabreichen, sobald vier Stunden vergangen waren. Er wachte hin und wieder auf und betrachtete sie seinerseits oder packte ihren Finger mit einem kräftigen Griff, der sie beruhigte. Am Morgen war ihr flau vor Müdigkeit, aber Williams Gesicht hatte eine gesundere
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