Das Geheime Vermächtnis
dem Brief aufblickte, den sie gerade am Sekretär im Salon schrieb.
»Was soll dieser Lärm?«, fragte sie streng.
»Wir waren auf dem Wagenplatz, und ich weiß, dass wir da nicht hindürfen, aber wir haben doch nur Karten gespielt, und Henry hat die Bettlaken auf der Wäscheleine angezündet! Mit Paraffin aus dem Schuppen! Und das Wohnmobil hätte beinahe auch gebrannt, und es hätte jemand dabei sterben können!«, sagte Beth in einem Atemzug, aber klar und deutlich.
Meredith nahm ihre Brille ab und klappte sie ruhig zusammen. »Ist das wahr?«, fragte sie Henry.
»Nein! Ich war nicht mal in der Nähe von diesem dreckigen Lager«, antwortete er.
»Lügner!«, schrie ich.
»Erica!« Das Wort, mit dem Meredith mich zum Schweigen brachte, klang wie ein Peitschenknall.
»Wie ist also dieses Feuer ausgebrochen, falls es überhaupt gebrannt hat?«
»Aber natürlich hat es gebrannt! Warum sollte ich so etwas sagen, wenn …«, protestierte Beth.
»Nun ja, Elizabeth, du hast auch gesagt, du würdest dich nicht mehr mit den Zigeunern herumtreiben, worum ich dich mehrmals gebeten hatte. Woher soll ich also wissen, wann du lügst und wann nicht?«, fragte Meredith gleichmü tig. Beth presste mit funkelnden Augen die Lippen zusam men. »Also, Henry? Weißt du, wie dieses Feuer ausgebrochen sein könnte?«
»Nein! Außer, na ja … die beiden bewundern diese Zigeuner doch glühend. Vielleicht war es das«, sagte er. Er blickte vorsichtig und beinahe verschmitzt zu ihr auf und versuchte, ihre Reaktion abzuschätzen. Meredith betrachtete ihn einen Moment lang, und dann lachte sie. Dieser seltene, grelle Laut erschreckte uns alle, sogar Henry. Zwei rosige Flecken der Freude erblühten auf seinen Wangen.
Obwohl Caroline sie anscheinend nie in Surrey besuchte, obwohl sie nicht einmal zu Charles’ Beerdigung erschien, kam Meredith schließlich doch hierher zurück und lebte mit ihrer Mutter in diesem Haus. Vielleicht wurde ihr das Leben irgendwann zu schwer, ohne Mann und mit zwei Kindern. Vielleicht brauchte Caroline Hilfe, und Meredith liebte sie trotz allem. Und schließlich sollte sie die nächste Lady Calcott werden; vielleicht hielt sie es einfach für ihre Pflicht, auf den Stammsitz der Familie zurückzukehren. Das werde ich nie erfahren, weil sie natürlich keine Briefe mehr schrieb, nachdem sie hierher zurückgekehrt war. Ich denke daran, wie fürsorglich und aufmerksam sie sich um Caroline gekümmert hat, als sie steinalt war – Meredith hat sie gefüttert, sie angezogen, ihr vorgelesen. Was, wenn sie trotz all ihrer Mühe kein bisschen Liebe zurückbekam? Was, wenn sie auf irgendein Bekenntnis auf dem Sterbebett hoffte, das doch nie kam – dass ihre Mutter sie stets geliebt habe, dass sie eine gute Tochter gewesen sei? Was, wenn sie davon träumte, noch einmal zu heiraten und neu anzufangen? Vielleicht rechnete sie damit, dass Caroline bald nach ihrer Rückkehr sterben würde, und stellte sich vor, wie sie das Haus zu neuem Leben erwecken würde, um damit einen neuen Mann anzuziehen und es mit noch mehr Kindern zu füllen? Doch wie die Königin lebte Caroline einfach immer weiter, und über dem Warten auf den Thron wurde die Erbin alt. Ich glaube, etwas in der Art muss der Grund dafür gewesen sein – zerstörte Hoffnungen, irgendeine furchtbare Enttäuschung –, dass Meredith so wurde, wie sie war. Dass sie unsere Mutter so schlecht behandelte, als die sich weigerte, die gleichen Opfer zu bringen.
Das sind meine Gedanken am Montagmorgen, während ich in eine warme Cordhose schlüpfe und den Beißring in die Tasche stecke. Das Glöckchen macht ein fröhliches Geräusch wie ein leises Kichern. Ich gehe ins Arbeitszimmer, krame in den Schreibtischschubladen nach einem Stift und einem Notizblock und stopfe beides in meine Handtasche. Heute ist wieder so ein kristallklarer Tag, blendend hell. Ich suche in mir nach dem Optimismus, den ich letztes Mal gefühlt habe, als der Himmel so blau war – da waren wir in Avebury, und Eddie war hier und hat uns aufgeheitert. Ich winke Beth zu, die mit Maxwell telefoniert und über die Rückgabe ihres Sohnes verhandelt. Sie sitzt direkt am Fenster, und ihr Gesichtsausdruck bleibt durch das blendend hereinfallende Licht unsichtbar.
Die Sonne steht tief am Himmel, unausweichlich. Sie sticht mir durch die Windschutzscheibe in die Augen und schießt grelle Spieße von der nassen Straße herauf, sodass ich durch eine blendende Mauer aus Licht fahre. Ich biege hinter dem Ort
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