Das Geheime Vermächtnis
sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Der Geruch der kranken Frau und ihres besudelten Kindes war Übelkeit erregend, und Caroline wurde plötzlich schwindlig. Doch sie setzte sich entschlossen in Bewegung, nahm einen Eimer und machte sich auf zur Zisterne. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und fragte: »Wo ist White Cloud? Und wohin ist Annie geritten?«
»White Cloud liegt krank im Tipi. Annie ist nach Osten geritten, zu unserem Volk am Arkansas River. Sie holt Medizin …«
»Am Arkansas River ? Das sind ja fast zweihundert Meilen! Dafür wird sie Tage brauchen!«, rief Caroline aus.
Magpie sah sie nur an, und ihr Gesicht war schlaff vor Erschöpfung und Verzweiflung. »Bitte machen Sie William sauber«, wiederholte sie.
Caroline holte einen Eimer Wasser und eine Schöpfkelle. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um Magpies Kopf und Schultern so weit anzuheben, dass die junge Ponca trinken konnte, aber Magpie schaffte es nur, ein wenig an dem Wasser zu nippen, denn das Schlucken fiel ihr schwer.
»Bitte trink noch etwas«, flehte Caroline sie an, doch Magpie antwortete nicht. Sie sank auf ihr übelriechendes Lager zurück und schloss die Augen. Caroline durchsuchte die Hütte und fand saubere Windeln und ein Handtuch. Sie nahm William aus seinem Tragebettchen und ging mit ihm nach draußen. Von dem widerlichen Schmutz, den sie vorfand, als sie das Baby auszog, musste sie würgen, und sie warf die besudelten Lumpen auf die Kohlen des heruntergebrannten Kochfeuers. Das Wasser war kalt, und William begann zu weinen, als sie ihn in den Eimer tunkte und den klebrigen Schmutz abwusch. Doch seine Schreie klangen schwächlich, seine Stimme ein wenig heiser, und das Geheul schien ihn rasch zu erschöpfen. Er döste ein, während Caroline ihn fertig badete und in eine frische Windel wickelte, so gut sie konnte. Sie setzte sich auf den Boden, legte ihn sich auf die Oberschenkel und streichelte wie in Trance seine Ärmchen, als ihr auffiel, wie warm er war und wie rot sich seine Wangen gefärbt hatten. Sie befühlte ihre eigene Stirn zum Vergleich, und der Unterschied war eindeutig. Hastig hob sie ihn hoch und ging zurück zur Erdhütte.
»Magpie … William fühlt sich ganz heiß an. Ich glaube, er hat auch Fieber«, sagte sie und brachte Magpie das Baby ans Bett. Tränen traten der jungen Ponca in die Augen.
»Ich kann ihm nicht helfen, ich weiß nicht, wie. Bitte … er wird auch krank werden. Sie müssen ihn nehmen … nehmen Sie ihn mit ins Haus! Wickeln Sie ihn, füttern Sie ihn. Bitte!«, sagte sie schwach.
»Ich habe ihn gewickelt, siehst du? Er wird wieder gesund … ihr werdet beide schnell wieder gesund, Magpie«, verkündete Caroline.
»White Cloud …«, murmelte Magpie undeutlich. Caroline legte William zurück in sein Bettchen und ging zu dem Tipi hinüber. Sie zögerte vor dem Eingang und fürchtete sich davor, hineinzugehen. Sie dachte an White Clouds stählernen Blick und ihre fremdartige Stimme, die fremdartige Lieder sang.
»White Cloud? Darf ich hereinkommen?«, rief sie schüch tern, doch sie erhielt keine Antwort. Beinahe keuchend hob Caroline die Zeltklappe an und schob sich ins Innere. White Cloud lag zusammengekrümmt auf dem Boden wie ein Bündel alter Lumpen. Das graue Haar klebte ihr schweiß nass am Kopf. Wenn ihre glänzenden Augen geschlossen waren, so wie jetzt, war sie nur eine alte Frau, klein und schwach, und Caroline schämte sich für ihre Furcht. »White Cloud?«, flüsterte sie, kniete sich neben sie und schüttelte sie wie vorhin Magpie. Doch White Cloud regte sich nicht. Sie ließ sich nicht wachrütteln. Ihre nackte Haut glühte vor Hitze, und ihr Atem ging schnell und flach. Caroline hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie ging wieder hinaus und blieb zaudernd stehen. Sie war ganz auf sich gestellt, plötzlich umgeben von Menschen, die ihre Hilfe brauchten.
Auf Magpies Bitte hin brachte Caroline William zurück ins Haus. Er schlief tief und fest, eine Faust im Mund. Sie legte ihn an die kühlste, schattigste Stelle, die sie finden konnte, und erkundete die Küchenschränke auf der Suche nach etwas Essbarem, das sie Magpie bringen könnte. Dann nahm sie all ihren Willen zusammen, ging hinüber zur Baracke und fand drei der Betten belegt. Die kranken Cowboys murmelten in hilfloser Verlegenheit einen Gruß, als sie eintrat, und versicherten ihr, es ginge ihnen gut, obwohl sie zu schwach waren, um aufzustehen. Caroline holte eimerweise frisches Wasser
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