Das Geheime Vermächtnis
Mund halten, also tat ich es. Wir spielten Verstecken, oder Spione, dachte ich. Ich bemühte mich, nicht laut im Gras zu rascheln, und suchte den Boden unter mir nach Brennnesseln, Ameisennestern und Hummeln ab. Dinnys Großvater saß auf einem Klappstuhl vor seinem zerbeulten weißen Wohnwagen, den Wachshut tief über die Augen gezogen, die Arme vor der Brust verschränkt und die Hände in die Achselhöhlen geschoben. Er schlief, glaube ich. Tiefe, dunkle Falten zogen sich von seinen Nasenflügeln hinab zu den Mundwinkeln. Seine Hunde lagen links und rechts neben ihm, die Köpfe auf den Vorderpfoten. Zwei schwarz-weiße Collies namens Dixie und Fiver, die man nicht streicheln durfte, bis Grandpa Flag es erlaubt hatte. Die fressen deine Finger, wenn du sie erschreckst.
Henry warf die zusammengeklebten Kekse über die Hecke. Die Hunde sprangen sofort auf, doch sie rochen die Kekse und bellten nicht. Sie fraßen sie auf, mitsamt dem Senf. Ich hielt den Atem an. Dixie gab ein röchelndes Keuchen von sich, nieste, drückte die Nase auf eine Pfote und rieb sie mit der anderen. Ihre Augen schlossen sich halb, sie nieste erneut und schüttelte wimmernd den Kopf. Henry biss sich auf die Fingerknöchel, und seine Augen glänzten begierig. Er leuchtete geradezu von innen. Grandpa Flag war aufgewacht und redete leise auf die Hunde ein. Er grub die Hände in das Fell an Dixies Hals und beobachtete sie besorgt, während sie würgte und schnaubte. Fiver lief in einem kleinen, langsamen Kreis ein Stück zur Seite, würgte und erbrach eine widerliche gelbe Masse. Ein ersticktes Lachen entschlüpfte um Henrys Faust. Ich hatte einen dicken Kloß in der Kehle aus Mitleid mit den Hunden und fühlte mich ganz heiß vor Schuld. Ich wollte aufstehen und rufen: Ich war es nicht! Ich wollte verschwinden, zum Haus zurücklaufen. Doch ich blieb, wo ich war, wiegte mich in der Hocke vor und zurück und barg das Gesicht an den Knien.
Aber das Schlimmste kam noch. Als ich von einem Kniff in den Arm aufgeschreckt wurde und endlich gehen durfte, waren wir kaum zwanzig Schritte weit gekommen, als Dinny und Beth auftauchten. Die Säume ihrer Jeans waren nass von Tau, und ein kleines grünes Blatt hing in Beths Haar.
»Was tut ihr zwei denn hier?«, fragte Beth. Henry sah sie finster an.
» Nichts «, sagte er. Wie viel Verachtung er in ein einziges Wort legen konnte.
»Erica?« Sie sah mich streng an, und ungläubig, als könnte sie es nicht fassen, dass ich bei Henry war, dass ich so schuldig wirkte. Dass ich sie und Dinny so hinterging. Aber wo waren sie denn gewesen, ohne mich? Das hätte ich ihr am liebsten ins Gesicht geschrien. Sie hatten mich allein gelassen. Henry funkelte mich böse an und versetzte mir einen Stoß.
»Nichts«, log ich. Den ganzen restlichen Tag lang schmoll te ich still vor mich hin. Und als ich Dinny tags darauf begegnete und wusste, dass er natürlich inzwischen zu Hause gewesen war, konnte ich ihn nicht ansehen. Ich wusste, dass er es wusste. Alles wegen Henrys Witzen.
»Rick? Können wir jetzt gehen?« Eddies Kopf schiebt sich durch den Türspalt in mein Zimmer, wohin ich mich – ausnahmsweise einmal – verkrochen habe, um durch die leicht beschlagenen Fenster auf die weiße Welt da draußen zu schauen. Winzige Kristalle haben sich in den Ecken der Fensterscheiben gebildet, fedrig und perfekt symmetrisch.
» Der Frost vollzieht geheimnisvoll sein Amt, und nicht ein Lüftchen hilft ihm «, zitiere ich zur Antwort.
»Was ist das?«
»Coleridge. Klar, Eddie, wir können gehen. Gib mir fünf Sekunden.«
»Eins-zwei-drei-vier-fünf?«
»Ha ha. Ab mit dir. Ich bin gleich unten – ich kann ja wohl kaum im Bademantel ausgehen.« Den ich trotzig noch anbehalten habe, als ich vorhin Maxwell die Tür öffnete.
»Heute nicht«, stimmt Eddie zu und zieht sich zurück. »Da draußen ist es so kalt, dass einem Pinguin der Arsch abfriert.«
»Charmant, mein Lieber«, rufe ich. Der Frost hat die Bäume in Weiß gehüllt. Vor dem Fenster sieht es aus wie in einer anderen Welt – einer spröden Albino-Welt, wo Weiß und zart schimmerndes Blau das tote Grau und matte Braun verdrängt haben. Es ist blendend hell. Jeder kleine Zweig, jedes herabgefallene Blatt, jeder Grashalm glitzert. Das Haus ist wie neu erstanden; nicht länger der Geist, oder der Leichnam, eines Ortes aus meiner Erinnerung. Ich bin heute voller Optimismus. Es wäre auch schwierig, nicht beflügelt zu sein. Nach so vielen bedeckten Tagen scheint der
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