Das Geheime Vermächtnis
diesem Baum in Sicherheit bringe«, fordert Beth ihn heraus.
»Jetzt habe ich das Überraschungsmoment verloren«, beklagt sich Eddie.
»Ich entkomme dir!«, stachelt Beth ihn an und hüpft voran. Mit einem wilden Schrei klettert Eddie an den Wurzeln hoch, er rutscht und strampelt und schlägt sich die Knie an. Er packt Beth mit beiden Händen, und sie quietscht. »Ich ergebe mich, ich ergebe mich!«, ruft sie lachend.
Wir gehen aus dem Dorf hinaus, auf der breiten, von Steinen gesäumten Avenue , die nach Süden führt. Die Sonne scheint Beth ins Gesicht – es ist lange her, seit ich es so gesehen habe. Sie sieht blass aus, älter, aber sie hat rosige Wangen. Sie wirkt gelöst. Eddie geht uns voran, das Schwert erhoben, und wir laufen, bis unsere Zehen kalt werden.
Auf dem Rückweg halte ich vor dem Spar-Markt in Barrow Storton, um Eddie ein Ingwerbier zu kaufen. Beth wartet im Auto, nun wieder stiller. Eddie und ich tun so, als bemerkten wir es nicht. Ich habe das grauenhafte Gefühl, dass sie schwankt, am Rande irgendeines Abgrunds steht. Eddie und ich zögern – wir wollen sie zu uns zurückziehen, fürchten aber, wir könnten sie versehentlich anstupsen und in die falsche Richtung kippen lassen.
»Kann ich stattdessen Cola haben?«
»Ja, wenn du die lieber magst.«
»Ich mache mir gar nicht so viel aus Alkohol, um ehrlich zu sein. Letztes Jahr habe ich mal Wodka getrunken, im Wohnheim.«
»Du trinkst Wodka?«
»Man kann kaum sagen, dass ich trinke . Ich habe getrunken, einmal. Und mir war schlecht, und Boff und Danny mussten sich übergeben, und unser Zimmer hat furchtbar gestunken. Eklig. Ich verstehe nicht, warum Erwachsene sich so viel daraus machen«, erklärt er altklug. Seine Wangen haben einen wunderbaren rosigen Glanz von der Kälte draußen. Die Augen sind so klar wie Wasser.
»Tja, vielleicht siehst du das später anders. Aber erzähl um Himmels willen deiner Mutter nichts davon. Sie würde einen Anfall bekommen.«
»Ich bin doch nicht blöd.« Eddie verdreht die Augen gen Himmel.
»Nein. Das weiß ich.« Ich lächle und verziehe kurz das Gesicht, weil zwei große, schwere Colaflaschen in unseren Einkaufskorb wandern. Als wir zur Kasse gehen, kommt Dinny herein. Die Türglocke bimmelt munter über seinem Kopf. Auf einmal weiß ich nicht mehr, wohin ich schauen, wie ich stehen soll. Er ist schnurstracks an Beth draußen im Auto vorbeigegangen. Ich frage mich, ob sie ihn gesehen und erkannt hat.
»Hallo, Dinny«, grüße ich ihn. Ich lächle. Zwanglose Bekanntschaft, Nachbarn, mehr nicht, doch das Herz schlägt mir bis zum Hals. Er blickt verblüfft zu mir auf.
»Erica!«
»Das ist Eddie – ich meine, Ed –, ich habe dir von ihm erzählt. Mein Neffe – Beths Sohn.« Ich ziehe Eddie neben mich, er grinst freundlich und sagt Hallo. Dinny mustert ihn, dann lächelt auch er.
»Beths Sohn? Freut mich, dich kennenzulernen, Ed«, sagt er. Sie geben sich die Hand, und aus irgendeinem Grund schnürt es mir die Kehle zu. So eine einfache Geste. Meine beiden Welten kommen mit der Berührung ihrer Hände zusammen.
»Sind Sie der Dinny, mit dem meine Mum immer gespielt hat, als sie noch klein war?«
»Ja, der bin ich.«
»Erica hat mir von Ihnen erzählt. Sie hat gesagt, ihr wart damals die besten Freunde.« Dinny wirft mir einen scharfen Blick zu, und ich fühle mich schuldig, obwohl es stimmt, was ich gesagt habe.
»Tja, das waren wir wohl.« Seine Stimme ist ruhig und leise, der Ton bedächtig wie immer.
»Kaufst du für Weihnachten ein?«, frage ich lahm dazwischen. Der kleine Supermarkt platzt vor Weihnachtsartikeln nicht gerade aus allen Nähten, nur etwas ausgefranstes Lametta ist an die Regalfronten geklebt. Dinny schüttelt den Kopf und verdreht leicht die Augen.
»Honey will Chips«, erklärt er und wendet verlegen den Blick ab.
»Haben Sie Mum draußen gesehen? Sie sitzt im Auto – haben Sie ihr schon Hallo gesagt?«, fragt Eddie. Ich spüre ein Kribbeln in der Magengrube.
»Nein. Noch nicht. Ich … ich gehe sie gleich begrüßen«, sagt Dinny, dreht sich zur Tür um und schaut zu meinem schmuddeligen weißen Auto hinaus. Sein Blick ist sehr aufmerksam, er bewegt sich schnurgerade und mit angespannten Schultern, als sei er gezwungen, zu ihr zu gehen.
Ich kann ihn durch die Glasscheibe der Tür beobachten, zwischen den aufgesprühten Flecken Kunstschnee hindurch. Er beugt sich zum Fenster hinunter, in einer kleinen Atemwolke. Beth kurbelt das Fenster herunter. Ich kann ihr
Weitere Kostenlose Bücher