Das Geheime Vermächtnis
verschwenden. Als hätte Corin ihre Gedanken gelesen, zügelte er das Pferd und ließ den Blick einen Moment lang über sein Zuhause schweifen, ehe er sich ihr zuwandte.
»Bist du bereit, nach Hause zu kommen?«, fragte er.
»Nein!«, erwiderte Caroline hitzig. »Ich … ich wünschte, jeder Tag könnte so sein wie dieser. Er war so wunderbar.«
»Das war er wirklich, Liebling«, stimmte Corin zu, nahm ihre Hand und drückte sie an die Lippen.
»Versprich mir, dass wir wieder dorthin fahren werden. Ich weigere mich, dem Haus nur einen Schritt näher zu kommen, bis du es mir versprichst.«
»Wir müssen doch zum Haus zurück! Es wird Nacht … aber ich verspreche dir, dass wir wieder dorthin fahren werden. Wir können hinfahren, wann immer wir wollen – wir werden hinfahren, und es wird für uns noch viele Tage wie heute geben. Das schwöre ich dir«, sagte er.
Caroline betrachtete sein Profil im indigoblauen Zwielicht und sah das Blitzen in seinen Augen, den Anflug eines Lächelns. Sie streckte die Hand aus und schmiegte sie an sein Gesicht. »Ich liebe dich.«
Mit einem Schnalzen der Zügel begann das Pferd den gemächlichen Weg hügelabwärts zu dem Holzhaus dort unten, und mit jedem seiner Schritte fühlte Caroline eine bange Ahnung in sich wachsen. Sie richtete den Blick auf die dunkle Ebene vor ihr, und trotz Corins Versprechen fürchtete sie plötzlich, dass nie wieder ein so himmlischer Tag kommen würde wie dieser.
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Den Blick im Buch, das vor dem Blick mir schwamm,
Bis wohl die Thüre aufging, und geschwind
Mein Auge hinflog und mein Herz aufhüpfte,
Des Fremdlings Antlitz wirklich zu ersehen …
Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht
Ich versuche, auch positive Erinnerungen an Henry zu finden. Vielleicht sind wir ihm das schuldig, weil wir groß werden durften, unser Leben leben, uns verlieben und entlieben. Er erzählte gern dumme Witze, und ich wollte immer welche hören. Beth war zwar sehr lieb und nahm mich überallhin mit, aber sie war schon als Kind ziemlich ernst. Einmal habe ich über Henrys Witze so sehr lachen müssen, dass ich mir beinahe in die Hose gepinkelt hätte – die Angst davor beendete den Kicheranfall auf der Stelle und ließ mich zur Toilette rennen. Wie nennt man einen Bären, der auf einer Kugel sitzt und schreit? Kugel-schrei-bär. Wie viele Beine hat ein Pferd? Acht – zwei vorne, zwei hinten, zwei links, zwei rechts. Was wird aus Anna, wenn sie badet? Ananas. Warum summt die Biene? Weil sie den Text vergessen hat. Was ist weiß mit schwarzen und roten Punkten? Ein Dalmatiner mit Masern. Das konnte er stundenlang, und ich drückte mir irgendwann die Finger in die schmerzenden Wangen.
Eines Tages, als ich ungefähr sieben war, erzählte er mir gerade wieder alberne Witze. Es muss ein Samstag gewesen sein, denn die Reste eines echten englischen Frühstücks lagen noch auf dem Esstisch. Draußen war es sonnig, aber noch kühl. Die Flügeltüren zur Terrasse standen offen, und ein Lufthauch schlich sich herein, gerade kühl genug, um mir die Fußknöchel zu kitzeln. Ich sah nicht richtig hin, was Henry tat, während er seine Witze abspulte. Ich passte nicht auf, sondern folgte ihm einfach, blieb so dicht neben ihm stehen, dass er fast über mich stolperte, und stupste ihn an, wann immer eine Pause entstand. Erzähl mir noch einen! Warum treibt ein Elefant auf dem Rücken den Fluss runter? Damit seine Tennisschuhe nicht nass werden. Was kommt raus, wenn man eine Schlange mit einem Igel kreuzt? Eine Rolle Stacheldraht. Er hatte sich die Keksdose geholt und klebte je zwei Butterkekse mit einem dicken Klecks Senf zusammen – die extrascharfe Sorte mit einer scheußlichen Farbe, die Clifford gern zu Würstchen aß. Ich wollte mich doch an etwas Gutes über Henry erinnern, und nun das.
Ich dachte damals gar nicht daran, zu fragen, warum er das tat. Ich fragte auch nicht, wohin wir gingen. Er wickelte die Kekse in eine Serviette und steckte sie in die Tasche. Ich folgte ihm über den Rasen wie ein zahmes Äffchen und verlangte Witze, immer mehr Witze. Wir gingen nach Westen, nicht in Richtung der Bäume, sondern zum Feldweg, an dem wir hinter der Hecke entlangliefen, bis wir Dinnys Lager erreichten. Henry hockte sich in den Graben und zog mich zu sich herunter. Wir versanken hinter einer schäumenden, duftenden Wand aus Wiesenkerbel. Erst jetzt kam ich auf die Idee, zu flüstern: »Henry, was machst du denn? Warum verstecken wir uns?« Er sagte, ich solle den
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