Das Geheimnis der 100 Pforten
antwortete nicht. Henry trat über die Schwelle. Er sah sich um.
»Ist da was?«, fragte Henrietta.
»Hier ist niemand«, antwortete Henry. »Nur jede Menge Bücher.«
»Guck mal hinter die Tür«, sagte Henrietta. Sie biss sich auf einen Fingernagel.
Das tat Henry und er fand einen violetten Bademantel
auf einem Haken. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an.
»Und?«, fragte Henrietta. »Was ist da hinten?«
»Ich habe gesehen, wie …«, begann Henry, aber seine Erinnerung war wie eine Wand. Dies war einfach ein violetter Bademantel. Und er war schmuddelig und ziemlich lang. Ärgerlich packte Henry eine Handvoll Stoff und schloss seine Faust darum. Er warf sich gegen die Sperre in seiner Erinnerung.
Henrietta trat ins Zimmer und sah ihn an. Sie schien besorgt. »Henry?«, fragte sie. »Ist alles klar bei dir?«
Henry ließ den Bademantel los. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »War Großvater klein?«, fragte er. »Ich hatte einen Traum … vielleicht war es ein Traum … in dem jemand dieses lila Ding trug. Ein kleiner alter Mann. Er kam aus dem Bad.«
Henrietta starrte ihn an. »Großvater war groß. Richtig groß sogar. Du hast jemanden im Bad gesehen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Henry. »Vielleicht auch nicht. Aber ich habe ein Bild von diesem Jemand im Kopf. Ich weiß auch nicht, warum.«
Henrietta ging zum Bett hinüber. Sie sah aus dem Fenster, verschränkte die Arme und schauderte. »Henry, das kommt mir hier schon irgendwie seltsam vor.«
Henry nahm das Buch, das auf dem Nachttisch lag, und drehte es herum. »Das ist ein Notizbuch.«
Henrietta sah ihn fragend an. »Großvaters Notizbuch?«
»Es ist komplett vollgeschrieben. Und es sieht aus, als wenn er gerade darin gelesen hätte.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Dad hat gesagt, als er starb, las er ihm gerade aus einem Buch über einen Krieg von früher vor. Jemand anders muss darin gelesen haben.«
»Wer denn?«, fragte Henry.
Sie sah Henry mit weit aufgerissenen Augen an. »Vielleicht der Mann, den du im Bad gesehen hast? Ich habe keine Ahnung.« Sie schauderte wieder und rieb sich die Arme.
Henry sah noch einmal zum violetten Bademantel an der Tür und dann wieder in das Tagebuch. Er begann zu lesen.
»Henrietta«, sagte er. »Hier geht es um Fächer.«
»Was?« Sie sah ihm über die Schulter. Auf der rechten Seite befand sich eine Zeichnung. Die Tinte war fleckig, aber man konnte genau erkennen, was sie darstellte. Es war die Fächerwand in Henrys Zimmer. Jede Tür war durch einen Umriss eingezeichnet und bis auf ein Fach hatte jedes in der Mitte eine Nummer. Auf der linken Seite standen zwei lange Reihen mit Zahlen, von 1 bis 98.
ACHTES KAPITEL
W arum denn bloß 98?«, fragte Henrietta. »Ich dachte, wir hätten 99 gezählt.«
Henry lehnte den Kopf zur Seite und presste die Lippen zusammen. »Ich glaube, die Tür mit den Kompass-Schlössern hat keine Nummer.«
Henrietta beugte sich etwas tiefer über das Notizbuch. »Was haben die Nummern zu bedeuten? Erfährt man in diesem Buch, wie man auf die andere Seite kommt?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Henry.
»Aber was verraten uns die Aufzeichnungen denn sonst?«
»Worüber? Über welches Fach? Es gibt 98.«
»Wie wäre es mit dem Postfach?«
Henry betrachtete die Zeichnung und entdeckte etwa dort, wo seiner Meinung nach das Postfach liegen musste, ein kleines Rechteck. Es trug die Nummer 77. Er sah auf die gegenüberliegende Seite des Notizbuchs
und suchte dort die Nummer 77. Neben der Nummer standen drei Wörter, die durch Schrägstriche getrennt waren.
»›Postamt/Byzanthamum/wann?‹«, las Henry vor.
»Ich habe keinen Schimmer, was das bedeuten soll«, sagte Henrietta. »Verstehst du es?«
»Postamt bedeutet Post. Byzanthamum ist ein Ort. Er kam auch in einem von den Briefen vor.« Er sah auf. »Ich habe die Briefe auf meinem Bett liegen gelassen.«
»Ich gehe sie holen«, sagte Henrietta.
Während Henry sich Großvaters Zeichnung ansah, hörte er sie die Treppe zum Dachboden hinauflaufen.
Als sie mit den Briefen in der Hand wieder ins Zimmer trat, atmete sie geräuschvoll. »Der verrückte handgeschriebene Brief ist an den Meister des 77. Fachs adressiert«, sagte sie. »Lies doch mal, was im Notizbuch über die schwarze Tür steht.«
Stattdessen aber suchte Henry die Tür über dem Postfach, die, aus der es auf sein Bett geregnet hatte. Sie trug die Nummer 56. Auf der anderen Seite standen neben der Nummer 56 die
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