Das Geheimnis der 100 Pforten
meinte Henrietta. »Keine Angst. Das ist nicht schlimm. Ist doch normal, wenn kleine Kinder Angst haben.«
Henry sah sie wütend an. »Ich bin älter und größer als du!«
Henrietta lachte und reckte das Kinn in die Höhe. »Und ich habe keine Angst!«
»Also, Moment mal«, schnaubte Henry. »Du hattest Angst, in dieses Zimmer zu gehen.«
»Das ist etwas anderes«, entgegnete sie. »Außerdem habe ich trotzdem nicht gekniffen. Ich bin hereingekommen,
und ich glaube sogar, dass hier jemand war.« Henry unterbrach sie nicht, daher fuhr sie fort. »Ich glaube ganz bestimmt, dass du genauso mutig sein kannst wie ein Mädchen, das jünger und kleiner ist als du, wenn du es versuchst. Lass uns noch ein bisschen mehr über die Fächer herausfinden. Und dann überlegen wir, ob wir Dad etwas davon sagen oder nicht. Einverstanden?« Sie grinste ihn an.
»Na gut«, sagte Henry. Was hätte er auch sonst sagen sollen?
Henrietta ließ ihren Blick über das Bett und dann durch das ganze Zimmer schweifen. »Aber lass uns nicht hierbleiben«, sagte sie. »Lass uns hinauf in dein Zimmer gehen.«
Henry nahm die Briefe und gemeinsam standen sie auf und gingen zur Tür. Henrietta trug das Notizbuch.
Henry zog den Schlüssel aus dem Schloss und steckte ihn in seine Tasche. Er packte die Tür am Rand, zog sie so nah an den Rahmen heran wie möglich, steckte dann seinen Finger in das Loch, wo früher einmal die Klinke gesessen hatte, und zog die Tür zu.
»Schließ sie lieber ab, damit sie nicht aufgeht«, sagte Henrietta.
Henry drückte gegen die Tür. Sie rührte sich nicht.
»Sie ist schon abgeschlossen«, sagte er, und während beide versuchten, sich nicht noch einmal umzusehen,
liefen sie die Treppe hinauf in Henrys Zimmer und warfen sich auf das immer noch feuchte Bett.
Eine ganze Weile verglichen sie die Nummern und Namen der Fächer in Henrys Wand miteinander. Als sie allmählich den Überblick verloren, schrieb Henrietta die Namen und Nummern von jedem Fach auf kleine Zettel, die sie aus einem alten Schulheft ausschnitt. Dann klebte sie sie auf die Türen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nicht in Henrys kleines Missgeschick zu treten. Als sie etwa mit der Hälfte durch waren, sprang sie wieder auf Henrys Bett und verkündete, dass sie keine Lust mehr hätte, weiter zu kleben.
»Ich kann ja mal ein bisschen kleben«, sagte Henry.
»Nein«, antwortete Henrietta. »Das meine ich nicht. Ich meine, ich habe jetzt genug davon, mir die Fächer immer nur anzusehen. Ich will jetzt durch eins durch.«
»Aber das können wir nicht.«
»Es gibt bestimmt einen Weg. Was hätte Großvater denn sonst mit ihnen gewollt?«
»Er hat sie unter Putz gelegt.«
Henrietta überhörte ihn. »Ich wünschte, wir könnten durch das Schwarze sehen. Oder du könntest hindurchfühlen.«
»Hm.« Henry blätterte im Notizbuch. Die meisten Seiten sahen enttäuschend aus; jede Menge Zeug, das sie beide nicht verstanden, über Holzmaserungen und
Wind, und viele, viele Skizzen und Beschreibungen des Hauses. Abgesehen von den beiden Zeichnungen, die sich mit den Fächern befassten, hatten sie nichts Aufschlussreiches entdeckt.
»Ich werde hineinfühlen«, sagte Henrietta und stand auf.
Henry versuchte, sie nicht zu beachten. Er wusste genau, sie würde schnurstracks auf die schwarze Tür zugehen, daher blätterte er einfach weiter und starrte abwesend auf die alte Handschrift.
Überraschend wendete sich Henrietta aber zuerst der Badon-Hill-Tür zu. Sie bat nicht um Hilfe bei dem schwergängigen Riegel, und es dauerte eine Weile, bis er sich von ihr bewegen ließ. Die Tür ging auf, und auch wenn er nicht hinsah, roch Henry die angenehme Veränderung im Zimmer. Henrietta roch sie ebenfalls.
»Ich wünschte, mein Zimmer würde so riechen«, sagte sie und atmete, das Gesicht vor der Tür, tief ein. Dann streckte sie ihre Hand in das Fach und begann umherzutasten.
Henry wusste, dass sie dasselbe fühlte, was auch er gefühlt hatte - weiche, feuchte Erde und Moos.
Sie ließ sich Zeit, bis sie ihre Hand wieder herauszog, und lächelte Henry an. »Ich habe Sonne gespürt«, sagte sie und wandte sich wieder dem Fach zu. »Ich glaube, ich weiß, wie wir hindurchsehen können.«
»Wie denn?«, fragte Henry. Jetzt war er doch neugierig geworden.
»Es ist nicht dunkel auf der anderen Seite«, sagte Henrietta. »Aber irgendwie kommt das Licht einfach nicht durch. Ich glaube, wir brauchen ein Periskop.«
Henry lachte. »Ein Periskop?«, fragte er.
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