Das Geheimnis der Äbtissin
hatte schon bald nach ihrer Ankunft in Eschwege erkannt, dass sie über eine außergewöhnliche Bildung verfügte und als Schülerin unterfordert war. So hatte sie ihr nach und nach andere Verpflichtungen übertragen. Zwar hatte sie nicht damit gerechnet, so schnell Ersatz für eine Lehrerin zu benötigen, doch zweifelte sie keinen Moment, dass Judith auch dieser Aufgabe gewachsen war.
Und doch war es ein schwieriges Unterfangen, da die Novizinnen nur wenig jünger waren als Judith und außerdem vollkommen unterschiedliche Voraussetzungen mitbrachten. Ihr Blick streifte die kleine Gudrun mit der Stupsnase. Sie hatte einen hochroten Kopf, wie immer nach einer Stunde, in der sie vergeblich versucht hatte sich die fremd klingenden Ausdrücke einzuprägen. Richlinde dagegen, das füllige Mädchen mit dem hochnäsigen Lächeln, musste ein neues Wort nur einmal hören. Sie vergaß keines wieder. Schwester Jeanne hatte bei Gudrun oft die Haselnussrute angewendet, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Judith hatte beobachtet, dass der kleinen Gudrun schon beim Anblick des Stocks in der knotigen Hand jegliche Antwort im Hals stecken blieb. Sie hatte sich fest vorgenommen, diese Art von Lernhilfe nicht zu benutzen. Die Novizinnen wiederum hatten das innerhalb der ersten Woche begriffen und versuchten jede auf ihre Art Nutzen daraus zu ziehen. Während Gudrun inzwischen weniger ängstlich blickte, begann Richlinde immer öfter gelangweilt zu schwatzen.
Judith seufzte. Sie musste sich Gedanken über ein anderes Vorgehen machen. Nachdenklich blickte sie den munter plappernden Mädchen nach. Sie schloss die Tür. Kurz vor dem Portal der Basilika sah sie den verletzten Kater Petrus in der Sonne liegen.
Sie hockte sich nieder und kraulte ihm das Fell. »Na, alter Kerl, wie geht es dir?« Sie tastete vorsichtig die Pfote ab, der Verband schien fest zu sitzen. Der Kater rollte sich auf den Rücken und schnurrte behaglich. Doch dann spitzte er die Ohren und sprang auf die Beine, wobei er das verletzte vorsorglich anhob.
Vom Haupttor des Stifts drangen Rufe und Hufgetrappel herüber, Geräusche, die nach Besuchern klangen. Seit Tagen rechnete sie im Stillen damit, denn der Heereszug nach Mailand sollte im März beginnen und würde die Ritter ihres Vaters an Eschwege vorbeiführen. Sie schlug den Weg zum Tor ein. Ein versäumtes Stundengebet war weniger schlimm als verpasste Gäste.
Sie lief am zweistöckigen Haupthaus vorbei, in dem sich oben der Schlafsaal für die Novizinnen und im Erdgeschoss das Skriptorium und der Essenssaal befanden. Eine Gruppe Reisender drängte durch das Tor, auf das sie jetzt freie Sicht hatte.
»Judith!« Unter Tausenden hätte sie diese Stimme erkannt.
»Ludwig!« Ungeachtet ihres schwarzen Habits rannte sie los. Eisiges Schmelzwasser spritzte unter ihren Füßen auf. Lachend und weinend zugleich fiel sie ihrem Bruder in die Arme.
»Wie geht es dir?«, fragten beide gleichzeitig und lachten.
»Ich zuerst!«, bestimmte sie. »Seid ihr unterwegs nach Mailand? Wie lange bleibt ihr?«
»Nur diese Nacht. Wir ziehen morgen gleich weiter. Du weißt doch, vierzehn Tage nach Ostern werden wir in Pavia erwartet.« Sein Gesicht glänzte voller Vorfreude.
Sie zog ihn über den Hof zum Gästehaus. »Hattest du deine Schwertleite schon?«
»Nein, der Kaiser selbst wird sie vollziehen.«
»Oh, was für eine Ehre.« Sie meinte es ernst, wusste sie doch, wie wichtig ihm diese Zeremonie war.
»Ja, ich kann es kaum erwarten. Schade, dass du nicht dabei sein wirst.« Er blieb stehen und musterte sie. »Du siehst älter aus mit diesem Schleier. Und strenger. Was macht dein Bein?«
Sie hüpfte übermütig auf dem Fuß. »Es schmerzt nicht mehr, es ist alles wieder so wie vorher.«
Eine rundliche Schwester empfing die Gäste an der Tür des Hospitals. Erst jetzt sah sich Judith nach den anderen Reisenden um und entdeckte Beatrix mit einer Dienerin nur wenige Schritte hinter ihnen. Hastig verbeugte sie sich. »Durchlaucht!«
Beatrix hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich kurz. Ihr Gesicht war eingefallen und blass. »Judith«, sagte sie matt. Dann ging sie vorüber und betrat das Gästehaus.
Unwillkürlich sah sie sich nach Konrad um, doch die große Gestalt des Bischofs konnte sie nirgends entdecken.
»Er ist bei den Soldaten im Zeltlager vor der Stadt geblieben«, erklärte Ludwig, der ihren suchenden Blick richtig gedeutet hatte.
»Was ist mit dem Kind?«, flüsterte sie ahnungsvoll.
Er beugte
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