Das Geheimnis der Äbtissin
Auf keinen Fall würde sie noch einmal über den dunklen Klosterhof laufen, auch nicht in Begleitung der Äbtissin. »Ich wasche das bisschen Blut ab, das genügt schon, glaubt mir.«
Wenig später lag sie auf ihrem Lager und starrte schlaflos in die Dunkelheit. Immer noch fühlte sie die Hände des Bischofs auf ihrem Leib. Sie grübelte, ob sie sich richtig verhalten hatte. Verraten hatte sie sich jedenfalls nicht. Sie musste Silas unbedingt warnen. Was für ein Glück, dass sie eine Kerze und Schreibutensilien unter ihrem Bett verwahrte.
Nach der Laudes am nächsten Morgen hielt die Äbtissin Judith zurück. »Die Königin hat uns beauftragt, Stundengebete für ihr Seelenheil zu verrichten. Sie hat für diese Aufgabe ausdrücklich nach Euch verlangt, Schwester Judith. Ihr werdet also in Zukunft den üblichen Psalmen und Lesungen ein Gebet für unsere Königin hinzufügen.«
»Ja, ehrwürdige Mutter.«
»Dann fangt gleich damit an«, befahl die Oberin und verließ die Kirche.
Das sieht Beatrix ähnlich, dachte Judith wütend. Sie hatte gehofft, noch ausgiebig mit Ludwig reden zu können, bevor sie aufbrachen. Stattdessen musste sie länger als alle anderen hier hocken. Warum hat sie mich ausgewählt? Weil ich als Einzige weiß, wie es wirklich um ihre Seele bestellt ist. So lange kann ich gar nicht beten. Sie hielt inne und bekreuzigte sich. »Gütiger Gott, verzeih meine lästerlichen Gedanken an diesem heiligen Ort.« Sie seufzte, ließ sich vor den Altar sinken und faltete die Hände. »Ora pro nobis, beata mater.«
Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie nicht mehr allein sprach. Eine zweite Stimme betete mit ihr. »Ave, domina mundi, ave, regina caelorum, ave, virgo virginum.«
Sie wandte den Kopf zur Seite. Neben ihr kniete Beatrix. Dunkle Schatten unter ihren Augen und eingefallene Wangen ließen ihr Gesicht wie einen Totenschädel aussehen. Ob auch sie letzte Nacht Besuch vom Bischof gehabt hatte?
Als sie geendet hatten, war es eine Zeitlang still im Gotteshaus. Von draußen drang das Schreien eines Esels herein.
»Ich danke dir. Ich weiß mein Anliegen bei dir in guten Händen.« Beatrix flüsterte es in die staubige Ruhe des Altarraums.
Wunder kann auch ich nicht bewirken, lag Judith auf der Zunge, doch sie schwieg wohlweislich.
»Gott straft mich zu Recht. Gleichwohl werde ich Friedrich mit erhobenem Kopf entgegentreten. Er hat genug andere Sorgen.«
Da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, sagte sie: »Ihr seht wirklich krank aus. Ihr solltet gar nicht reisen.«
»Du sprichst wie deine Tante. Sie hat mir das Leben erhalten, das ich leichtfertig wegwerfen wollte.« Beatrix sah wehmütig zum Kruzifix hinauf und schlug ein Kreuz über ihrer mageren Brust. Dann erhob sie sich und knickste, bevor sie sich vom Altar abwandte. »Ich hatte gehofft, du könntest mir mit ein paar Kräutern aushelfen für den Weg über die Alpen. Vielleicht etwas von dem gelben Enzian?«
Judith folgte ihr zum Kirchenportal. »Ihr braucht ebenso ein Stärkungsmittel. Ich werde nachsehen.«
»Ich begleite dich.« Draußen quälte sich das erste Tageslicht durch tief hängende Wolken. Ein kalter Wind blies über den Hof, der Frühling ließ auf sich warten.
Hatte Sigena der Königin keine Arznei mitgegeben? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Beatrix etwas Bestimmtes im Sinn hatte. Warum sonst wich sie ihr nicht von der Seite?
Der Kräuterschrank befand sich im Haupthaus, dort, wo neben dem Skriptorium ein kleiner Krankenraum eingerichtet war. Hier hatte sich Judith einen Arbeitsraum geschaffen, in dem sie sich wohl fühlte. Unter der Decke hingen Bündel trockener Pflanzen, allerdings mit besorgniserregend großen Lücken. Die wertvolleren und vor allem die gefährlichen Drogen bewahrte sie in dem verschließbaren Schrank aus stabilen Eichenbrettern auf. Den Schlüssel zu dem derben eisernen Schloss trug sie um den Hals, einen zweiten verwahrte die Äbtissin selbst.
»Bewahrst du den Enzian dort oben auf?«, fragte Beatrix und legte den Kopf in den Nacken.
»Nein, ich lagere ihn im Schrank.«
»Aber er ist doch nicht schädlich, oder?«
»Nein. Ich bestelle ihn bei den Mönchen in St. Gallen. Sie liefern ihn bereits zerstoßen und pulverisiert. Und so kann ich ihn nicht unter die Decke hängen.«
Sie griff unter ihre Tunika und zog den Schlüssel hervor. Neugierig sah Beatrix ihr zu. »Was für eine Ordnung«, schmeichelte sie, als ihr Blick über die vielen penibel beschrifteten
Weitere Kostenlose Bücher