Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
Straßen, die sich unter dem Gewölbe kreuzten, menschenleer. Alles Geschehen spielte sich auf der Piazza ab.
Es war schon lange her, seit Mondino zum letzten Mal einer öffentlichen Hinrichtung beigewohnt hatte, doch er erinnerte sich genau an die nüchterne Zeremonie. Der Verurteilte erschien mit den Mönchen, den Sbirren und dem Henker auf dem Balkon. Einer der Mönche hielt ihm bemalte Holztafeln vors Gesicht, damit er die wüst schreienden Leute aus dem Volk nicht sehen musste. Dann legte man ihm das Seil um den Hals, und der Henker stieß ihn über die Brüstung. Es war auch vorgekommen, dass das Seil riss, dann hatte das Volk den Unglückseligen getötet.
Der Gedanke, ihm könne auch ein solches Schicksal zuteilwerden, schien Mondino wie ein Alptraum.
Die Wachen ließen sie passieren, und schweigend stiegen sie die Stufen hinauf; begleitet von Sprechchören, die laut die sofortige Herausgabe des Schuldigen forderten. Im ersten Stock, wo sich gewöhnlich die Richter aufhielten, waren die Holzscheiben mit den Wappen des Einhorns, des Adlers, des Hirsches und der anderen Tiere genauso leer wie die Stühle der Notare. Dieses sonst so mit Leben erfüllte Gebäude war am Sonntag wie ausgestorben.
Die Sbirren blieben stehen und redeten mit einem Mann, der einen Talar trug und sie zu einer hohen Tür schickte, deren Flügel in Spitzbögen ausliefen. Luca klopfte, wartete auf
die Aufforderung einzutreten, doch als niemand antwortete, ging er trotzdem hinein.
Schließlich schaute Mondino auf. Sie befanden sich in einem großen Raum, in dem hinten an der Ecke eines langen Tisches Enrico Bernadazzi aus Lucca und Pantaleone Buzacarini aus Padua saßen, also der Podestà und der Capitano del Popolo. Vor ihnen stand Gerardo und redete lebhaft auf sie ein.
Mondino nahm all diese Einzelheiten mit einer gewissen Distanz auf. Seit seiner Verhaftung glitt alles an ihm ab, ohne Spuren in seiner Seele zu hinterlassen. Sogar die Schreie der Menge, die der im Wind wehende Leinenvorhang in der Fensteröffnung nicht zu dämpfen vermochte, waren zu einem Hintergrundgeräusch geworden, das nicht das Geringste mit ihm zu tun hatte. Der Lärm klang für Mondino wie das Rauschen eines Flusses, der Hochwasser führte. Ein Detail riss ihn jedoch aus diesem Zustand der Teilnahmslosigkeit: Gerardo hätte gefesselt sein müssen, stattdessen war er frei. Einer seiner Arme hing kraftlos an der Seite hinab, ein Anzeichen dafür, dass man ihn einige Male der Seilfolter unterzogen hatte. Alles in allem aber verhielt er sich nicht wie ein Gefangener beim Verhör. Er schien vielmehr eine viel versprechende Sache zu vertreten, die ihm ein sicheres Auftreten verschaffte.
Mondino konnte sich keinen Reim darauf machen. In jedem Fall würde er bald eine Erklärung dafür bekommen, was hier vor sich ging. Bei ihrer Ankunft hatten seine drei Häscher ihr Gespräch unterbrochen und sich gleichzeitig zur Tür umgedreht. Mondino hoffte, Gerardo würde so geistesgegenwärtig sein, sich gleichgültig zu zeigen, aber er wurde enttäuscht.
»Magister!«, rief der junge Mann aus. »Euch schickt der Himmel!«
»Mich schickt niemand, man hat mich verhaftet«, antwortete der Arzt.
Die Sbirren blieben drei Schritte vor dem Podestà stehen. Nur ihr Anführer trat vor, um weitere Anweisungen zu erhalten.
»Lasst uns allein«, befahl Enrico Bernadazzi.
Die drei gehorchten wortlos, und als sie den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, begrüßte der Capitano del Popolo Mondino förmlich. Dann setzte er ihn über die aktuelle Lage in Kenntnis, wobei er seine Stimme erheben musste, um den Lärm von draußen zu übertönen. Mondino verschlug es die Sprache, als er hörte, was der Capitano ihm zu sagen hatte. Er konnte kaum glauben, dass die junge Tochter des Bankiers und der teuflische Mörder, den sie suchten, ein und dieselbe Person sein sollten. Sein Verstand war wie gelähmt, er reagierte nur langsam auf jede weitere Neuigkeit. Innerhalb einer knappen Stunde hatte er schließlich erfahren, dass er wegen Mordes gesucht wurde und aus diesem Grunde auch verhaftet worden war, und hörte, dass er nun jedoch wieder frei war. Einen Augenblick lang fürchtete Mondino, dass es sich um eine Falle handeln könnte, um ihn mit Gerardos Hilfe in Widersprüche zu verwickeln und dazu zu bringen, etwas zu gestehen, was er nicht getan hatte. Er wagte erst zu glauben, als Pantaleone Buzacarini ihn auf Fiammas Tagebuch und den Brief hinwies, die offen auf dem
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