Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
wäre es, seine Freiheit zu behalten, ohne dass man dafür dem Papst oder dem Kaiser Rechenschaft ablegen musste. Aber weil dies nicht möglich war, sollte man sich lieber mit Heinrich VII. verbünden, der vor wenigen Monaten in Mailand zum König von Italien gekrönt worden war. Vor ein paar Tagen war Heinrich nach Lodi und Cremona aufgebrochen. Sollte es ihm gelingen, die beiden Städte zu unterwerfen, würde seine Herrschaft dadurch
gefestigt. Mondino überlegte, was er wohl tun würde, wenn der Herrscher vor den Toren von Bologna stehen würde wie einst vor so langer Zeit Barbarossa. Seine Treue zu den Ghibellinen legte ihm nahe, einen ehrenvollen Frieden auszuhandeln, aber wenn die Stadt beschließen sollte, zu den Waffen zu greifen und zu kämpfen, würde auch er dies tun. In einer so unsicheren Welt zählte die Freiheit der Stadt mehr als alles andere.
Ein Donner riss ihn aus seinen Gedanken und rief Mondino in Erinnerung, warum er den Schreibtisch verlassen hatte. Er holte den Stapel mit den Notizen zu seinem Buch von einem Regal. Es waren Hunderte von Blättern, mit Fußnoten und Bildern, in denen Punkt für Punkt, Organ um Organ der Aufbau des menschlichen Körpers beschrieben wurde. Mondino stellte sich gern vor, wie aus seiner Abhandlung ein großes, ledergebundenes Buch werden würde, auf dem in goldenen Lettern dann ein schlichter Titel prangen sollte: Anothomia . Ein Buch, das die Ärzte der kommenden Jahre mit demselben Respekt studieren würden, wie ihn die Juristen dem Werk des großen Irnerius von Bologna entgegenbrachten. Und das wie dessen Abhandlung mit dem Fortschritt menschlichen Wissens vervollständigt und verbessert werden würde, dabei jedoch immer die Grundlage bleiben würde, an der niemand vorbeikam.
Im Augenblick bestand seine Abhandlung nur aus einer Sammlung von Notizen, die Mondino immer wieder überarbeitete und die er noch nicht in Reinschrift abzufassen wagte. Weitere Studien, weitere Forschungen waren nötig, ehe er der Welt seine Ergebnisse wie eine unfehlbare Landkarte präsentieren konnte, der man blind folgen konnte.
Für sein Werk konnte die Enthüllung des Geheimnisses, wie man Blut in Eisen verwandelte, ein ungeheuer wichtiger Fortschritt sein. Sicher, es war gefährlich, aber es gehörte zu Liuzzos Wesen, nie ein Risiko einzugehen, ihm selbst war diese Eigenschaft fremd. Sein Onkel war ein ausgezeichneter Arzt,
aber ihm fehlte völlig der Wunsch sich weiterzuentwickeln. Er beschränkte sich darauf, Regeln anzuwenden, die andere aufgestellt hatten. Vielleicht, dachte Mondino, hatte er es jedoch gerade deshalb so schnell und so weit im Studium gebracht.
Er schätzte die Ergebnisse der Forschung, war aber nicht bereit, sich dafür in irgendeiner Weise zu exponieren. Mondino hatte sich daher entschlossen, ihm die ganze Angelegenheit zu verschweigen. Sein Onkel hätte sich nur erschreckt, ihm Knüppel zwischen die Beine geworfen und ihm das Leben schwer gemacht.
Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, erschien Liuzzo plötzlich im Türrahmen.
»Guten Abend, Onkel. Ich wusste nicht, dass Ihr schon eingetroffen seid.«
»Du könntest auch ab und zu mal hinunterkommen, um deinem Vater einen Besuch abzustatten«, sagte Liuzzo vorwurfsvoll. »Er hat mir gesagt, dass er dich heute noch gar nicht zu Gesicht bekommen hat.«
»Ihr seid ungerecht. Ich bin erst vor kurzem bei ihm gewesen. Er schlief, und ich wollte ihn nicht wecken.«
Sein Vater war krank. Für Mondino stand fest, dass er in der linken Lunge ein Karzinom hatte oder ein Sarkom, wie Galen es bezeichnete. Wenn er sich auf die rechte Seite drehte, bekam er kaum noch Luft, weil die einzige gesunde Lunge von seinem Körpergewicht zusammengepresst wurde und die linke, in der der Tumor wucherte, sich nicht mehr ausdehnen konnte. Diese Krankheit war unheilbar, und man konnte nicht mehr tun, als dem alten Mann beizustehen und ihm die letzten Monate seines Lebens so angenehm wie möglich zu gestalten. Mondino und seine drei Söhne, Gabardino, Ludovico und Leone, kamen abwechselnd zu ihm ins Zimmer, sobald sie ein wenig freie Zeit hatte.
Liuzzo betrat das Arbeitszimmer und näherte sich den Unterlagen
auf dem Schreibtisch. »Diese Aufzeichnungen nehmen deine gesamte Zeit in Anspruch«, sagte er. »Wenn du keine Vorlesungen hältst, schreibst du. Und in der Nacht schläfst du nicht wie jeder andere gute Christenmensch, sondern gehst fort, um Leichen zu sezieren. Nicht nur dein Vater bekommt dich kaum zu Gesicht. Auch
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