Das Geheimnis der Apothekerin
dass wir die Reise nicht vergeblich gemacht haben, denn es war eine Freude für uns, dich – und natürlich auch deinen Vater und deinen Bruder – kennenzulernen. Von dir, meine Liebe, sind wir jedoch besonders beeindruckt.«
»Danke.« Lilly konnte nicht verbergen, dass das aufrichtige Lob sie sehr freute.
»Nun, wie du ebenfalls weißt, muss dein Onkel einen männlichen Verwandten als Erben für den Familienbesitz einsetzen. Wir haben jedoch einen bestimmten Spielraum bei der Verteilung persönlicher Dinge wie Schmuck und Möbel. Wir dürfen einer ganz besonderen jungen Dame sogar eine jährliche Zuwendung hinterlassen. Ich möchte dich nicht bestechen, Lillian, aber ich würde mich freuen, wenn du über die Sache nachdenken würdest. Wir möchten, dass du mit uns kommst und bei uns in London lebst. Wir würden die besten Lehrer für dich anstellen, Lehrer für Umgangsformen, Zeichnen, Sprachen und Tanz, die dich alles lehren, was eine vollendete junge Dame wissen und können muss.«
Lillys Herz klopfte stürmisch. Shaws private Mädchenschule hatte sie verlassen müssen, nachdem ihre Mutter verschwunden war. Vielleicht konnte sie jetzt ihre Ausbildung vollenden? Es war immer einer ihrer sehnlichsten Wünsche gewesen.
Ihre Tante fuhr fort: »Du darfst auch deine Freundin mitbringen, wenn du möchtest. Sie könnte deine Zofe sein. Wir würden es als ein Privileg ansehen, dich während einer oder zwei Saisons in London zu Gast zu haben und in die Gesellschaft einzuführen … und vielleicht sogar einen Ehemann für dich zu finden.«
»Nun, Ruth, wir wollen nichts überstürzen«, mahnte Jonathan Elliott.
Lillys Herz und Kopf hämmerten vor freudiger Erregung, Hoffnung und gleichzeitig vor Angst; sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Möchtest du nicht gerne London sehen?«, fragte Tante Elliott. »Und die Lücken in deiner Erziehung schließen? Die besten Museen besuchen, die schönsten Konzerte hören, auf den exklusivsten Bällen tanzen? Vielleicht sogar nach Italien oder Spanien reisen?«
Reisen . Ein Bild stieg vor ihren Augen auf. Sie selbst, als sie noch klein war, und ihre Mutter, die Köpfe über eine alte Weltkarte gebeugt …
Doch noch immer sagte sie nichts, starrte nur in das Gesicht ihrer Tante, als spräche diese eine Sprache, die sie nicht verstand.
Irgendwann gelang ihr die stammelnde Frage: »W-warum?«
»Warum?«, wiederholte ihre Tante, nun ihrerseits verständnislos.
»Warum wollt ihr das alles für mich tun? Warum liegt euch so viel daran? Ich werde es euch nie vergelten können.«
Die zarten Züge ihrer Tante wurden ernst. »O nein, Lillian, das stimmt nicht. Dein Glück und dein Erfolg werden Belohnung genug für uns sein.« Sie griff über den Tisch und nahm Lillys Hand. »Und wenn du dann vielleicht noch ein wenig Zuneigung zu uns entwickelst, wäre das schon mehr, als wir verlangen dürfen.«
Lilly kämpfte darum, die Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, im Zaum zu halten. Hatte sie sich nicht genau das schon immer gewünscht? Aber würde ihr Vater es erlauben? Zögernd sagte sie: »Habt ihr schon mit Vater darüber gesprochen?«
Tante Elliott sah sie forschend an, die Augen voller Hoffnung. »Sollen wir, Lillian? Sollen wir mit ihm reden?«
Lilly atmete tief ein und schluckte die hundert Fragen hinunter, die ihr durch den Kopf schwirrten. Sie stellte nur eine einzige:
»Wann?«
4
Ein Apotheker sollte vor allem anderen Frömmigkeit und Gottesfurcht besitzen und weder Neid noch Bosheit kennen. Er sollte ein umfangreiches Wissen haben und nicht zur Fettleibigkeit neigen.
C. J. S. Thompson, Mystery and Art Of The Apothecary
Bei ihrer Rückkehr vom The George fand Lilly ihren Vater in der Labor-Küche, wo er mit einem Spachtel einen Mörser reinigte. Er legte das Instrument beiseite und wischte sich die Hände an einem Tuch ab.
»Lilly, gut, dass du wieder da bist. Du musst mich zum Marlow House begleiten.«
Was immer sie ihm in ihrer Erregung hatte erzählen wollen, war wie weggeblasen. »Marlow House? Warum denn?«
»Sir Henrys Diener hat mich gerufen. Offenbar leidet sein Herr große Schmerzen.«
»Aber Sir Henry hat doch immer nach Dr. Foster geschickt.«
»Ja, aber Mr Foster liegt mit der gleichen Krankheit im Bett, die unseren Mr Baylor niedergestreckt hat.« Er legte noch eine Ampulle in seinen Apothekerkoffer und ließ das Schloss zuschnappen.
Lilly atmete tief ein und stieß die Luft zwischen den geblähten Wangen wieder aus. »Ich
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