Das Geheimnis der Apothekerin
Sie drückte seinen Arm. Einen kurzen, kostbaren Augenblick lang waren Vater und Tochter sich sehr nah. Dann räusperte er sich und setzte seine Suche fort.
Lilly ging zum Schrank und nahm den Viertellaib dunkles Brot heraus. Sie zwang sich zu einem leichten Ton. »Charlie hat mir erzählt, dass Mutter mit ihm gesprochen hat, bevor sie fortgegangen ist. Sie sagte, dass sie zurückkommen würde, dass sie nicht für immer weg sei. Hältst du das für möglich?«
»Dass sie vorhatte, nur für kurze Zeit wegzugehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. An einem Tag war sie noch hier und am nächsten fort, ohne mir etwas davon zu sagen. Vielleicht hat sie Charlie angelogen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Oder Charlie erinnert sich nicht richtig oder hat sich das Ganze nur ausgedacht. Ich glaube, wir werden es nie erfahren.«
Lilly hatte endlich einen sauberen Rührlöffel gefunden und rührte die Suppe um, aber sie war nicht bei der Sache. »Vielleicht hat sie tatsächlich gelogen, um ihn zu trösten. Ich habe Charlie auch gesagt, dass ich nicht für immer weg sein werde, und das war ebenfalls eine Lüge. Oder nicht? Ich weiß es ja gar nicht. Wenn ich wirklich bald zurückkomme, dann nur, weil alles schiefgelaufen ist. Weil ich nicht begreife, was die Lehrer mir beibringen wollen, und weil ich eine Enttäuschung für die Elliotts bin.«
»Das wirst du ganz bestimmt nicht sein.«
»Ich hoffe es inständig, aber was ist, wenn ich es nicht schaffe? Und wenn tatsächlich alles gut geht, werde ich dann nicht mindestens zwei Jahre oder sogar länger weg sein? Sie sprach von zwei Saisons.«
»Und wenn du richtig Erfolg hast …« Er führte den Satz nicht zu Ende.
»Was meinst du damit?«
»Wenn du einen passenden Ehemann findest, natürlich.«
Lilly überlief der Schauer einer Vorahnung. »Das ist nicht mein wichtigstes Ziel, aber ich vermute, du hast recht.«
»Auf jeden Fall ist es das Ziel deiner Tante. Wenn du Erfolg hast, bedeutet das, dass viele annehmbare Männer um dich werben werden und du denjenigen heiraten wirst, der am reichsten ist und die besten Verbindungen hat. Angenommen, es ist ein Londoner, dann wirst du natürlich für immer dort leben.«
Lilly, die immer noch mechanisch im Suppentopf rührte, musste sich plötzlich ein Lächeln verbeißen. Ihre Tagträume von einem gut aussehenden Gentleman, der sich in sie verliebte, waren auf einmal anscheinend nicht mehr nur kindische Fantasien.
»Das sind natürlich betrübliche Aussichten für deinen alten Vater, aber so ist das Leben. Wir können nichts dagegen machen. Zum Glück sind die Straßen zwischen hier und London gut und der Kanal ist ja auch noch da.« Er zog mit triumphierendem Lächeln die Schöpfkelle aus dem Regal. »Also, wann fährst du?«
Teil II
Ein Apotheker ist in diesem Land durch seine Ausbildung qualifiziert, kranken Menschen Beistand zu leisten. Da er im Allgemeinen ein größeres Wissen über Arzneimittel besitzt als die Ärzte, die von den englischen Universitäten kommen …, ist er in der Praxis häufig erfolgreicher als jene.
Jeremiah Jenkins, Observations on the present state
of the Profession and Trade of Medicine, 1810
Als Gott sah, dass unser schwacher sterblicher Körper anfällig für eine Vielzahl von Krankheiten ist, hat es dem allmächtigen, gnädigen Gott in seiner grenzenlosen Gnade und Güte und in seinem Mitgefühl mit den sündigen Menschen gefallen, in unseren Gärten, vor unseren Türen, ja sogar an den Wegrändern Heilmittel zu pflanzen, damit wir nur die Hand auszustrecken brauchen und sogleich das rechte Heilmittel finden …
Culpeper's Complete Herbal & English Physician
6
Sie war zweifellos keine Frau von Stand gewesen,
aber mit einer guten Erziehung, gebildet …
Jane Austen, Überredung
Lillian Grace Haswell saß in dem Zimmer, das sie nun schon seit über einem Jahr bewohnte, und betrachtete sich im Spiegel über ihrem Frisiertisch. Die Zofe ihrer Tante legte gerade letzte Hand an ihr zu einer eleganten Krone aufgestecktes rotbraunes Haar, dessen kupferne Glanzlichter im Kerzenlicht schimmerten.
»Fertig, Miss.«
»Danke, Dupree.«
Lilly stand auf und strich das Mieder ihres leuchtend gelben, bodenlangen Kleides glatt, das sich eng an ihre schlanke Gestalt schmiegte. Das Mädchen reichte ihr lange, weiße Handschuhe und legte ihr vorsichtig einen leichten Umhang über die Schultern. Es war ein schöner Abend Anfang Mai und man brauchte keinen schweren, warmen Mantel
Weitere Kostenlose Bücher