Das Geheimnis der Apothekerin
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »erinnern Sie sich an seinen Namen?«
»Ich bin schon froh, wenn ich noch weiß, was ich zum Tee gegessen habe. An etwas, das vor zwei Jahren passiert ist, erinnere ich mich nicht.«
»War es vielleicht Quincy?«, fragte Lilly und übersah geflissentlich den erschrockenen Blick ihres Onkels.
Die Augen der Frau verengten sich beim Nachdenken. »Nein, da klingelt nichts.«
»Hier ist meine Karte«, sagte Onkel Elliott. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns benachrichtigen. Ihre Auslagen werde ich Ihnen natürlich ersetzen.«
Lilly hatte das Gefühl, dass dem Gemurmel der Frau die rechte Überzeugung fehlte.
Als sie gingen, drehte sich alles in Lillys Kopf. Ihre Mutter verheiratet mit einem anderen Mann? Das konnte sie nicht glauben. Ihr Onkel stapfte mit grimmiger Miene neben ihr her. Wenn sie es schon kaum fassen konnte, welch ein Schlag musste es erst für einen Mann wie ihn sein zu erfahren, dass seine Schwester so tief gesunken war?
»Vielleicht hat die Frau sich geirrt«, fing Lilly an. »Sie hat doch selbst gesagt, was für ein schlechtes Gedächtnis sie hat. Vielleicht war Rosa gar nicht Mutter.«
Er schüttelte den Kopf. »Verstehst du jetzt, warum ich so lange gewartet habe, sie aufzusuchen? Und warum ich deine Tante nicht in diese Dinge hineinziehen wollte?«
»Ja. Trotzdem bin ich dir dankbar, so schmerzlich es auch war.«
»Bist du einverstanden, dass wir nicht mehr darüber reden?«
»Ja.«
Er sah zu einem Laden auf der anderen Straßenseite hinüber. »Ich weiß etwas. Lass uns kurz in diese Leihbücherei gehen. Ich glaube, du hast inzwischen jeden einzelnen Roman in unserer Bibliothek und in der Leihbücherei gelesen. Ein neues Buch wäre vielleicht genau die Abwechslung, die wir nach einem Tag wie diesem brauchen.«
Lilly nickte zustimmend. Sie hatte bereits ein neues Buch, aber sie konnte jederzeit noch eins gebrauchen. Wahrscheinlich brauchte ihr Onkel eine Ablenkung genauso dringend wie sie.
Er hielt ihr die Tür auf und sie trat ein. Der hohe Raum war bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. Hier war es nicht so elegant wie in der Leihbücherei, die die Elliotts regelmäßig besuchten, aber die Auswahl war mit Sicherheit größer.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Angestellter ihr zuwinkte. »Mrs Wells! Wie schön, Sie … o, entschuldigen Sie!« Der schlanke junge Mann zögerte. »Ich hielt Sie für jemand anders.«
Lilly war sofort hellwach. »Für wen?«, fragte sie. »Für eine Mrs Wells, so sagten Sie doch, oder?« Wer war das ?
Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie sehen ihr unglaublich ähnlich, nicht, Henry?«, rief er einem Mann zu, der auf einer Rollleiter stand und ein Buch in ein hohes Regalfach stellte. »Komm doch mal her!«
Der zweite Angestellte, der etwas älter und rundlicher war, kletterte die Leiter herunter und trat zu ihnen.
»Sieht diese junge Dame nicht aus wie unsere Mrs Wells?«, fragte der erste.
»Ja, wirklich. Nur etwas jünger.«
Lilly begegnete dem Blick ihres Onkels.
»Ich habe die Dame allerdings seit längerer Zeit nicht gesehen«, sagte Henry. »Du?«
»Nein. Es muss ein halbes Jahr her sein, dass ich sie das letzte Mal sah. Danke, Henry.«
Der zweite Angestellte kehrte zu den Regalen zurück und ihr Onkel entschuldigte sich; er wollte in die Abteilung mit den Geschichtsbüchern gehen.
Der erste Angestellte rieb sich die Hände. »Kann ich Ihnen helfen, Miss? Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
Neugierig fragte Lilly: »Was würde denn Ihre Mrs Wells wünschen?«
Der junge Mann überlegte. »Sie hat sehr gerne Fanny Burney gelesen, aber auch alle Romane von Scott und Coleridge, die wir haben. Ich habe noch nie jemand gesehen, der so viel liest. Ich glaube, sie ist Lehrerin oder so was.«
»Haben Sie vielleicht eine Liste mit den Büchern, die sie zuletzt gelesen hat?«
Er sah sie verwirrt an. »Wir führen Listen, natürlich, aber …«
Lilly war plötzlich verlegen und sagte rasch: »Schon gut. Ich habe nur gedacht, wenn ich ihr so ähnlich sehe, habe ich vielleicht auch Freude an den Büchern, die sie gelesen hat. Das ist alles.« Sie lachte etwas angestrengt.
»Nun, normalerweise sind diese Listen privat. Aber in diesem Fall kann ich nichts Schlimmes darin sehen, wenn ich sie Ihnen zeige.« Er winkte mit dem Finger und sie folgte ihm zur Haupttheke. Dort öffnete er ein hölzernes Karteikästchen und blätterte rasch die Karten durch. »Da
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