Das Geheimnis der Apothekerin
haben wir sie. Als Letztes hat sie Fanny Burneys Der Wanderer ausgeliehen.«
Wie passend , dachte Lilly. »Gut. Kann ich das auch haben?«
Der Angestellte hielt noch immer die Karte in der Hand. »Ach du meine Güte, da stehen noch zwei Pf…«
Lilly fiel ihm ins Wort: »Erlauben Sie.«
»Aber nein, Miss, das ist nicht nötig.«
»Doch, das ist es. Es ist das Mindeste, was ich für Ihre ausgezeichnete Beratung tun kann.«
Er gab nach. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wenn ich Mrs Wells sehe, würde ich ihr gern sagen, wie ihre Wohltäterin hieß …?«
Lilly schwieg. Es war unwahrscheinlich, dass Mrs Wells, ob sie nun ihre Mutter war oder nicht, hierher zurückkehren würde, aber sie zögerte trotzdem. »Sie brauchen ihr gar nichts zu sagen.«
Ihr Onkel tauchte auf. »Da bist du ja, Lillian. Bist du fertig?«
Der Angestellte grinste und machte sich eine Notiz auf der Karte.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Lilly. »Haben Sie Steele's Marinekalender?«
Die Augen des Angestellten wurden groß. »Aber ja. Die neue Ausgabe für dieses Vierteljahr ist gerade eingetroffen. Wissen Sie, Mrs Wells hat sie auch oft durchgesehen.«
»Wirklich?« Lilly war überrascht über diesen Zufall, wenn es denn ein Zufall war. »Haben Sie auch ältere Ausgaben? Fünf oder sechs Jahre alt?«
»Leider nicht. Immer nur die neueste Ausgabe. Hier ist sie.« Er reichte ihr den dünnen Band.
»Danke. Das leihe ich ebenfalls aus.«
Die Brauen ihres Onkels gingen in die Höhe, aber Lilly gab keine Erklärungen.
15
Männer haben das Schwert, Frauen den Fächer,
und der Fächer ist mindestens so wirksam wie eine Waffe!
Joseph Addison, englischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts
Lilly war mehr als überrascht, als Dr. Graves ihnen wenige Tage später einen Besuch abstattete; damit hatte sie nach ihrer wenig höflichen Verabschiedung ganz und gar nicht gerechnet. Ihre Tante frühstückte auf ihrem Zimmer, deshalb war Lilly allein, als Fletcher Dr. Graves meldete. Sie war sehr in Versuchung, auf die allgemein akzeptierte Ausrede »Ich bin nicht zu Hause!« zurückzugreifen, brachte es dann aber doch nicht fertig. Sie fürchtete sich zwar vor einem Wiedersehen mit ihm, aber sie hatte den Mann mehr als genug belogen und sei es auch nur durch ihr Schweigen.
Als Fletcher Dr. Graves hereinführte, hielt dieser seinen Hut noch in der Hand. Fletcher streckte die Hand aus, um ihn entgegenzunehmen, doch Dr. Graves schien es nicht zu bemerken.
»Möchten Sie sich nicht setzen?«, bot Lilly an.
»Danke, nein.« Er hielt den Blick gesenkt. »Miss Haswell, ich habe nachgedacht. Ich wollte Ihnen sagen … ich meine, ich glaube, ich begreife jetzt, warum Sie nichts über ihre Familie gesagt haben. Natürlich mussten Sie die Wünsche Ihres Vormunds in dieser Sache respektieren. Ich möchte mich entschuldigen für meine … unangebrachte Reaktion.«
»Es tut mir leid, dass ich es so lange vor Ihnen geheim gehalten habe«, sagte sie und versuchte gerade, Worte zu finden, ihm von ihrem zweiten Geheimnis zu erzählen, als er auch schon fortfuhr.
»Aber jetzt glaube ich …« Er schaute sie an. »Verstehen Sie denn nicht? Jetzt fügt sich eins ins andere. Ist meine Überzeugung, dass Sie und ich so gut zueinander passen, da noch ein Wunder?«
Lilly spürte, dass ihr der Mund offen blieb und schloss ihn rasch. Sie starrte ihn an und sah, wie seine blassen Wangen sich röteten.
»Ich meine … ich halte den Beruf Ihres Vaters nicht unbedingt für einen Nachteil. Ihre Erfahrungen ermöglichen Ihnen zum Beispiel zu verstehen … dass ich durch meinen Beruf zu häufigen Abwesenheiten gezwungen bin.«
Das war nicht gerade ein schmeichelhafter Antrag. War es überhaupt ein Antrag? Oder versuchte er ihr nur zu sagen, dass er ihr gerne weiter den Hof machen würde?
In gewisser Weise gefiel ihr die Vorstellung. Dass sie imstande war, das Schwere am Beruf ihres Mannes zu verstehen und ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Konnte sie auf diese Weise nicht das Beste aus den beiden Welten machen, in denen sie zu Hause war? In welcher anderen Ehe wären die Jahre in der Apotheke ihres Vaters nicht einfach verlorene Zeit? Dr. Graves hingegen würde als Arzt ein gutes Auskommen haben und trotzdem als Gentleman angesehen werden, der in der Welt ihres Onkels und ihrer Tante jederzeit willkommen war – wenn auch nicht bei Ruth Elliott selbst.
»Apropos Beruf«, sagte er verlegen, »ich muss jetzt gehen. Ich möchte nicht zu spät zu meinem Dienst im
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