Das Geheimnis der Apothekerin
geschlossen. Vielleicht war es, während sie fort war, neu eröffnet worden, aber trotzdem – warum sollte Francis dort sein?
Als sie merkte, dass von ihrem Vater in den nächsten Stunden keine weiteren Antworten zu erwarten waren, ließ sie ihn im Sprechzimmer liegen, setzte ihren Hut wieder auf und ging hinaus. Dort hängte sie erst einmal das Schild Geschlossen an die Tür.
Sie sah den Kohlenhändler über den Dorfplatz gehen und eilte hinaus, um mit ihm zu reden.
»Entschuldigen Sie, Mr Jones«, sagte sie. »Haben Sie Francis Baylor gesehen?«
»Ja. In der Apotheke.«
Das muss ein Irrtum sein , dachte Lilly. Von dort kam sie ja gerade.
Sie nickte höflich und ging weiter, an der Kohlenhandlung und der Metzgerei vorüber. Dahinter bog sie in die schmale Milk Lane ein, in der die alte Kurzwarenhandlung lag. Plötzlich blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Über dem Laden hing an zwei kräftigen Ketten ein neues, glänzendes Schild mit der Aufschrift: Lionel Shuttleworth, Wundarzt und Apotheker .
Mit klopfendem Herzen zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie unmittelbar vor dem großen Ladenfenster stand. Sie fühlte sich wie ein unbeholfener Spion, während sie sich vorbeugte und hineinspähte. Die Szenerie, die sich ihr bot, war die, die sie erwartet hatte, im Laden ihres Vaters zu sehen. Damen, die die Etiketten auf blauen und braunen Fläschchen studierten. Männer, die vor der Theke standen und warteten, dass sie beraten wurden, oder zahlen wollten. Blitzsaubere Regale, die Auslagen förmlich überquellend von Patentarzneien. Von der Decke hingen ein Hai und ein Kugelfisch, leuchtend in Purpurrot und Gold.
Sie sah den Rücken eines hochgewachsenen Gentleman. Er trug einen grünen, maßgeschneiderten Überrock und hellbraune Hosen. Sein Haar war an der Seite und hinten kurz geschnitten, die Koteletten sauber getrimmt. Er machte eine ausnehmend gute Figur, dieser Mann, der der neue Wundarzt und Apotheker sein musste. Als er sich umdrehte, sah sie, dass er in der Tat sehr gut aussah …
Lilly schlug eine Hand vor den Mund und unterdrückte ein Aufkeuchen. Denn der Mann war Francis Baylor, älter und größer und besser gekleidet. Er bediente einen Kunden, als sei er selbst der Wundarzt.
Sie drehte sich schnell um, sah aber noch, wie er aufblickte und seine Augen sich weiteten. Schon im Weglaufen, hörte sie, wie hinter ihr die Ladentür aufging und rasche Schritte erklangen. »Lilly! Miss Haswell!«
Sie hatte ihn doch sehen wollen, oder etwa nicht? Aber vielleicht hatte das, was sie gesehen hatte, ja schon alle ihre Fragen beantwortet, ohne dass ein einziges Wort gefallen war.
Trotzdem holte sie tief Luft und drehte sich zu ihm um. »Sieh da, Francis«, sagte sie kühl.
»Gott sei Dank, dass du gekommen bist. Hast du deinen Vater gesehen?«
»Ja.«
»Dann weißt du also Bescheid.«
»Was genau sollte ich wissen? Dass der Lehrling, um den er sich jahrelang gekümmert hat, ihn im Stich gelassen hat und jetzt bei seinem Konkurrenten arbeitet? Dass er Charles Haswell in den Bankrott getrieben hat?«
»Nein! So war es nicht!«
»Wie war es dann? Hat man dich gezwungen, hier einzutreten?«
»Irgendwie schon. Dein Vater konnte mich nicht mehr bezahlen …«
»So viel zum Thema Loyalität. Du hattest ein Dach über dem Kopf, oder etwa nicht?« Sie betrachtete mit kritischen Augen die breiten Schultern und den Brustkorb unter dem maßgeschneiderten Überrock. »Du siehst nicht gerade aus, als müsstest du Hunger leiden. Oder dich in Lumpen kleiden. Hättest du nicht aus reiner Barmherzigkeit noch ein bisschen bleiben können?«
»Das bin ich. Er hatte mir sechs Monate keinen roten Heller mehr bezahlt. Meine Lehre ist abgeschlossen. Ich bin jetzt Geselle und darf Lohn verlangen. Ich bin so lange geblieben, wie ich konnte. Aber ich muss schließlich etwas verdienen, oder?«
»Warum? Soweit ich weiß, hat deine Mutter ein gutes Einkommen als Kerzenmacherin. Ihr und deinen Schwestern ist es in den Jahren, in denen du als Lehrling nichts verdient hast, doch gut gegangen.«
Eine junge Dame in einem reizenden Blumenhut und geblümtem Kleid kam aus dem Laden und ging an ihnen vorbei, ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen in der fein behandschuhten Hand. Lilly erkannte sie sofort.
»Mr Baylor, Sie sind verschwunden, bevor ich Ihnen danken konnte. Sie waren sehr hilfreich, wie immer.«
Er räusperte sich. »Gern geschehen, Miss Robbins.«
Du meine Güte, sie ist hübscher
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