Das Geheimnis der Apothekerin
gesagt hat, dass es ihr gut geht …«
Ihre Kehle war zu eng geworden, sie konnte nicht mehr weitersprechen. Sie biss sich auf die Lippen in der Hoffnung, so den Tränenstrom aufhalten zu können. »Ich habe Sie angelogen, als Sie fragten, warum ich die Marinelisten durchsah. Wir glauben, dass meine Mutter unter anderem Namen lebt – als Rosa Wells . Vielleicht ist es einfach nur ein falscher Name, eine Abkürzung von Haswell. Aber ich wollte nachsehen, ob ein Mann namens Wells zusammen mit dem Offizier gedient hat, den meine Mutter zu heiraten hoffte.«
»Und?«, fragte er, obwohl ein rascher Blick ihr sagte, dass er die Antwort fürchtete.
Sie stieß die Luft aus und nickte. »Ein James Wells hat bei mindestens einem Auftrag unter ihm gedient. Ich habe keinen Beweis, dass er meiner Mutter je begegnet ist, aber es ist ein seltsames Zusammentreffen.«
»Werden Sie versuchen, mit diesem James Wells in Kontakt zu treten?«
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Ich weiß es nicht. Die Verbindung ist so unwahrscheinlich.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht einmal, wo ich ihn finden könnte.«
Er nickte und einige Sekunden lang saßen sie beide in verlegenem Schweigen beisammen.
»Nun gut«, sagte Lilly und straffte die Schultern. »Ich denke, Sie haben das Recht, es zu erfahren. Sollte die Flucht – oder Schlimmeres – von meiner Mutter bekannt werden, gäbe es einen Skandal, der für meinen Onkel und meine Tante genauso schlimm wäre wie für mich. Und auch für Sie, falls Sie …« Sie ließ den Gedanken unausgesprochen.
»Mein Vater verabscheut Skandale«, sagte Graves wie zu sich selbst. »Hat sie schon immer verabscheut.« Er fuhr sich erregt mit beiden Händen durch das hellblonde Haar und räusperte sich. »Danke, dass Sie es mir erzählt haben, Miss Haswell.« Dann stand er auf, blickte sehnsüchtig zur Tür und sagte in abgehackten Sätzen: »Ich gehe jetzt wohl besser. Muss nachdenken. Melde mich wieder.«
Nein, das wirst du nicht … dachte Lilly traurig und ergeben, als der hübsche Mann, der wie eine goldene Erscheinung wirkte, sich auf dem Absatz umdrehte und davoneilte. Hatte sie nicht immer gewusst, dass es so enden würde, bei jedem Gentleman? Jetzt habe ich auch den letzten meiner Verehrer in die Flucht geschlagen , dachte sie, und diese Erkenntnis schmerzte sie sehr viel mehr, als sie angenommen hatte.
Fletcher überreichte Lilly einen Brief, als sie an ihm vorbei nach oben gehen wollte. Sie musste sich rasch umkleiden. Ihre Tante war sicher schon fertig angezogen für die Besuche, die sie heute Morgen abstatten wollten.
Doch eine Viertelstunde später trug Lilly immer noch ihr Morgenkleid aus Musselin und saß auf ihrem Bett.
»Lillian?«, rief ihre Tante aus dem Flur. »Bist du fertig? Die Kutsche wartet schon.«
Doch Lilly verharrte reglos, wo sie war; nur ihre Hände, die den Brief hielten, fingen an zu zittern.
Ihre Tante kam ins Zimmer; sie zog sich gerade die Handschuhe an. Sie trug ein höchst elegantes Besuchskleid. »Lillian? Wir sind spät dran, Liebes. Lillian! Was um Himmels willen ist passiert?«
Wortlos streckte Lilly ihrer Tante den Brief entgegen. Sie kannte jedes Wort, das darin stand, nicht wegen ihres unfehlbaren Gedächtnisses, sondern wegen der kryptischen Kürze des Schreibens. Komm nach Hause. Dein Vater ist nicht er selbst.
»Aber du weißt doch gar nicht, ob wirklich etwas Schreckliches geschehen ist«, beharrte Ruth Elliott, während Lilly rastlos durchs Zimmer ging. »›Dein Vater ist nicht er selbst.‹ Was soll das heißen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Du weißt nicht einmal, von wem der Brief ist – wenn man es überhaupt einen Brief nennen kann.«
»Ich nehme an, es war Mrs Mimpurse. Unsere Nachbarin.«
»Aber warum hat sie dir nicht geschrieben, was los ist?«
»Ich weiß es nicht!«, sagte Lilly laut und ihre Tante zuckte zusammen angesichts der ungewohnten Schärfe in ihrer Stimme. »Verzeih, Tante. Ich mache mir einfach große Sorgen. Er hat meine letzten Briefe nicht beantwortet und jetzt das!«
Lilly bückte sich und zerrte ihren Koffer unter dem Bett hervor.
»Was machst du da?«
»Ich muss natürlich hinfahren.«
»Aber … was ist mit Mr Bromley?«
Lilly stieß scharf die Luft aus. »Mr Bromley hofft inständig, die Zuneigung von Susan Whittier zu gewinnen.«
»Bist du ganz sicher?«
Lilly nickte und schlug den Deckel ihres schäbigen Koffers zurück. Er war der einzige Gegenstand, den ihre Tante und ihr
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