Das Geheimnis der Apothekerin
Scheiben, und gierig auch nach den Gerüchen und Geräuschen, den leise geführten Gesprächen über die verordneten Arzneien und die dazu erteilten Ratschläge. Mit raschen Schritten überquerte sie den Platz und war auch schon da. An dem Bogenfenster blätterte noch immer die weiße Farbe ab. Neu war, dass das Ladenschild nur noch an einer Kette hing. Sie fragte sich, wann das wohl passiert war. Vor dem Fenster zögerte sie kurz, als sie sah, dass die Auslage spärlich war und sehr staubig wirkte. Sie runzelte die Stirn. Wo waren die Kunden, die vielen neuen Dorfbewohner? Es war doch nicht Sonntag, warum war kein Mensch hier?
Plötzlich machte Lilly sich Sorgen. Die Hand schon auf dem Türgriff, flüsterte sie ein Stoßgebet. Dann stieß sie die Tür auf und schloss die Augen, um sich auf den Klang der Ladenglocke zu konzentrieren. Es war wie immer. Sie atmete tief ein. Gerüche überfluteten sie, doch der gewohnte Duft nach getrockneten Blumen und Kräutern wurde von etwas Feuchtem, Fauligem überlagert.
»Hallo?«, rief sie zaghaft, dann lauter: »Vater? Charlie?«
Keine Antwort. Ihr Körper war plötzlich in Alarmbereitschaft.
Sie ging durch den Laden und sah mit Abscheu auf die verschmutzte Theke. Auch die hintere Theke war mit Tablettenstaub überzogen und mit gebrauchten Mörsern und Instrumenten übersät, die allesamt dringend gereinigt werden mussten. Was um alles in der Welt war hier geschehen? Warum fegte Charlie denn nicht mehr und wischte nicht mehr Staub?
Irgendwo in einer Ecke raschelte eine Maus. Lilly schauderte. In wachsender Angst öffnete sie die Hintertür zur Labor-Küche und den übrigen privaten Räumen. Ein fauliger Geruch schlug ihr entgegen, sodass ihr beinahe übel wurde. Schmutziges Geschirr, alte Töpfe, ungespülte Mörser und Trichter waren unordentlich zwischen die Borde gestopft. Hatte Mrs Fowler gekündigt oder war sie entlassen worden? Sie hatte immer alles peinlich sauber gehalten. Wieder hörte sie ein Rascheln. Ob es von einem Nagetier oder einem Insekt kam, konnte sie nicht sagen.
Sie ging an dem kleinen Zimmer vorbei, in dem Francis schlief, und warf einen Blick hinein. Ihr Herz machte einen Sprung. Das Bett war nicht bezogen, die Haken für die Kleider waren leer, die Kommode ebenfalls.
Sie rief die Treppe hinauf, aber niemand antwortete. Das Sprechzimmer fiel ihr ein; sie ging durch den Laden zurück und stieß die Tür auf. Auf dem Schreibtisch ihres Vaters türmten sich Papiere, Rechnungen und Päckchen. Ganz oben auf dem Durcheinander standen mehrere schmutzige Teller; auf dem obersten lag eine halb aufgegessene Roulade.
Lilly blieb stehen, die Hand auf die Brust gepresst. Sie hatte ihren Vater gefunden. Er lag in Hemd und ungebügelter Hose, unrasiert, auf der Behandlungsliege. Sein Mund stand offen, Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel. Einen Arm hatte er über die Augen gelegt, der andere hing hinunter. Seine Hand umklammerte eine leere Flasche.
Gütiger Gott im Himmel … »Vater?« Zögernd berührte sie seine Schulter. Sie schüttelte ihn, erst sanft, dann heftiger. »Vater!«
Er zuckte zusammen. »Was? Was ist los?« Er wischte sich über den Mund, dann murmelte er: »Ich bin gleich bei Ihnen.«
Seine Augen waren nur verschleierte Schlitze, öffneten sich jedoch weiter, als er sie sah. »Lilly?«
Er stöhnte. »Ich hab nur ein Schläfchen gemacht.«
»Das kann nicht sein. Soll ich Dr. Foster rufen?«
»Nein. Nicht Foster.« Er rollte sich auf die Seite und versuchte sich aufzusetzen, fiel aber zurück auf die dünne Matratze.
Es tat Lilly im Herzen weh, ihn in einem solchen Zustand zu sehen.
»Ich brauche nur ein bisschen Schlaf.«
Um deinen Rausch auszuschlafen? , fragte sie sich.
Ihr Vater hatte nie zur Trunksucht geneigt. Was war passiert, dass sie ihn so vorfand? Sie hoffte, dass es nicht an ihrer langen Abwesenheit lag. Aber wenn doch, warum hatte er dann nicht geschrieben? Unvermittelt dachte sie an das ›Wunder von Wiltshire‹, von dem Mr Bromley erzählt hatte. Charles Haswell, berühmt dafür, dass er einst einen Mann von den Toten auferweckt hatte, konnte jetzt nicht einmal allein vom Bett aufstehen.
»Wo ist Charlie, Vater? Und Francis?«
Er murmelte etwas, die Augen halb offen, aber völlig unstet, nicht in der Lage, etwas zu fixieren.
»Wo ist Francis?«, wiederholte sie.
»Im alten Schneiderladen.«
»Was?« Warum sollte der Lehrling ihres Vaters auf einmal in dem alten Herrenartikelgeschäft sein? Es war seit Jahren
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