Das Geheimnis der Apothekerin
künftige Anstellung verlieren.« Sie war erleichtert, dass er nicht fragte, warum sie an ihres Bruders Stelle mit ihm verhandelte. Ob er von Charlies Behinderung wusste?
Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wischte ihre Besorgnis fort, wie er eine Mücke vor seinem Gesicht verscheucht hätte. »Denken Sie nicht mehr daran, Miss Haswell. Ich verstehe. Ich werde mit Stedman und Timms sprechen. Ihr Bruder soll nach Hause zurückgehen und sich keine Sorgen machen. Ich stelle ihm auch gern ein Zeugnis aus, wenn Sie möchten. Und er ist jederzeit wieder willkommen bei uns, wenn sich die Situation ändert und er zu Hause nicht mehr benötigt wird.«
Sie war völlig überrascht, wie einfach es gewesen war. War er wirklich so freundlich oder wollte er nur dringend zu seinen Gästen zurückkehren? Wahrscheinlich hatte sie einfach einen günstigen Moment erwischt.
»Ich danke Ihnen, Sir. Sie sind sehr großzügig.«
Er ging zur Tür, öffnete sie und sah zu ihr zurück. Das war ihr Zeichen zu gehen.
Als sie bei der Tür war, war sie erneut überrascht, weil er ihr seinen Arm bot. Fragend schaute sie ihn an. »Darf ich Sie ins Esszimmer begleiten?«, fragte er.
»Aber ich … Nein. Ich wollte nicht … ich hatte nicht vor …«
Er sah sie eindringlich an. »Haben Sie Roger Bromley wirklich eine Abfuhr erteilt?«
Sie holte tief Luft. »Ich glaube schon. Aber nur, weil ich wusste, dass er eine andere liebt.«
Er nickte nachdenklich. »Und Sie glauben, die Menschen sollten aus Liebe heiraten, Miss Haswell?«
»Ich weiß nicht, ob das für alle gilt, aber für mich auf jeden Fall.«
»Sollen wir?«
»Sollen wir was?«
»Zum Dinner gehen.«
»Oh – natürlich.« Wollte heißen: Natürlich hatte er das Dinner gemeint, und nicht: Natürlich bleibe ich zum Dinner. Hoffentlich verstand er sie nicht falsch und hielt sie für anmaßend!
Roger Bromley tauchte im Flur auf. »Genug der Dorfgeschäfte. Ich hatte gehofft, Miss Haswell ins Speisezimmer führen zu dürfen.«
»Zu spät, Bromley.« Marlow nahm doch tatsächlich ihre Hand und legte sie auf seinen Arm. »Sie werden leider Miss Whittier und ihre Anstandsdame begleiten müssen.«
Auf der anderen Seite der Halle stand Susan Whittier mit einer blassen, unscheinbaren Frau mittleren Alters. Susan wirkte gereizt. »Haben mich denn alle vergessen?«
»Komme schon«, beschwichtigte Roger sie, schlenderte durch die Halle und bot ihr seinen Arm. Sie lächelte und legte ihre Hand auf seinen Ärmel. Roger schaute über die Schulter zu Lilly zurück und zwinkerte ihr zu.
Bevor sie weiter protestieren konnte, führte Marlow Lilly durch die große Halle.
Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln oben etwas Grünes leuchten. Sie blickte auf. Eine Frau, gekleidet in schimmernde Lagen smaragdfarbener Seide, glitt die Treppe hinab. Ihr Auftreten war hochelegant, ihre leuchtend rote Haarkrone majestätisch, ihr porzellanweißer Teint makellos. Ja, das war die Frau, die sie auf dem Londoner Ball an Roderick Marlows Arm gesehen hatte. Sie war schön wie ein Traum. Lilly fühlte sich in ihrem Ausgehkleid und dem Strohhut hoffnungslos underdressed.
Der Butler, Mr Withers, erschien und erbot sich, ihren Umhang zu nehmen. Sie schluckte. Sollte sie wirklich bleiben? Für ein Dinner war sie nicht passend gekleidet. Und sie war nicht eingeladen. Nervös nestelte sie ihren Hut ab und reichte ihn Mr Withers. Dann öffnete sie die Spange, die ihren Mantel zusammenhielt, und der Butler nahm ihr auch diesen ab. Rodericks Augen glitten über ihren Hals und ihren Ausschnitt und kehrten dann zu ihrem überhitzten Gesicht zurück. Warum wollte er, dass sie blieb? War denn nicht diese Frau, die jetzt vor ihnen stehen blieb, seine Auserwählte?
»Miss Lillian Haswell, Miss Cassandra Powell.«
Miss Powell neigte höflich, aber reserviert den Kopf. Lilly erwiderte die Geste. Jetzt, von Nahem, sah Lilly, dass Miss Powell älter war, als sie aus der Entfernung gewirkt hatte, wahrscheinlich sogar älter als Roderick selbst.
»Ich glaube, ich habe Sie beide in London zusammen gesehen.« Lilly wollte damit nur diskret andeuten, dass ihr bewusst war, dass die beiden ein Paar waren und dass sie keine Gefahr für sie darstellte. Doch keiner von beiden reagierte wie erwartet.
Roderick räusperte sich und Miss Powell wandte den Blick ab. »Ich erinnere mich an keine solche Gelegenheit.« Sie schlug ihren Lackfächer auf. »Ich muss wohl allein hineingehen.«
»Unsinn, Cass – Miss Powell.« Er
Weitere Kostenlose Bücher