Das Geheimnis der Burggräfin - Roman
einer Sinnestäuschung erlegen? Hatte einer der Geister ihn genarrt, die zur Sonnenwende aus dem Totenreich emporstiegen, um mit den Lebenden ums Feuer zu tanzen? Die flüsternde Stimme war so leise und rasch an ihm vorbeigeweht, dass er sich nicht einmal sicher war, ob sie einem Mann oder einem Weib gehört hatte.
Glaubt nicht alles, was Euch zu Ohren kommt.
Was, zum Henker, sollte das bedeuten?
KAPITEL 4
Sachsen, 22. Juni im Jahre des Herrn 1066
D er nächste Morgen traf den Burggrafen nicht in bester Stimmung an. Er hatte das Fest früh verlassen und sein Unbehagen anschließend auf der Burg mit reichlich Bier und Met hinuntergespült. Als er erwachte, brummte sein Schädel, und er fragte sich, wieso, in aller Welt, er in der Waffenkammer auf dem nackten Boden geschlafen hatte und nicht, wie gewöhnlich, unten auf seinem Lager beim Herdfeuer.
Dunkel erinnerte er sich daran, dass er noch spät in der Nacht in Schwermut versunken über seinem Becher gebrütet hatte, während das Gesinde schon längst am Herdfeuer schnarchte. Ein Nachtdämon musste ihn genarrt haben, denn schließlich hatte er sich in seinem Heim in Worms gewähnt und war, dem schemenhaften Schwanz einer Katze folgend, die Treppe zu seiner Schlafkammer hinaufgewankt. Was sich dann in jenem schmalen Streifen Sonnenlicht, der durch die Schießscharte auf einen Stapel Pfeile fiel, als betrüblicher Irrtum erwies.
Als Bandolf an der morgendlichen Tafel Platz nahm, stellte er fest, dass sein junger Schreiber noch immer abgängig war – ein Umstand, der nicht zur Besserung seiner Laune beitrug.
Nachdem er die rebellischen Säfte in seinem Magen mit
Ingilds würzlosem Haferbrei besänftigt hatte, befahl er einem Burgknecht, mit ein paar Hörigen in Egininkisrod nach dem säumigen Prosperius zu suchen.
»Es ist mir gleich, aus welchem Bierfass ihr ihn zerren müsst, aber schafft ihn mir auf die Burg«, knurrte er. Obgleich er sich im Stillen schwor, dass Prosperius die Prügel, die ihn für seine Trödelei erwarteten, nicht wieder vergessen würde, beschlich den Burggrafen doch allmählich auch die Sorge, dem Burschen könne etwas zugestoßen sein.
Bandolf seufzte. Sein Weib hatte einen Narren an dem Tunichtgut gefressen, seit der Burggraf den hohlwangigen Bengel auf dem Marktplatz in Worms aufgelesen und kurzerhand als seinen Schreiber verdingt hatte. Matthäa würde ihm die Hölle heißmachen, wenn er Prosperius nicht wohlbehalten nach Worms zurückbrächte.
»Falls ihr ihn im Dorf nicht findet, dann sucht den Wald um Mittelberg und Buchenfels ab«, fügte er hinzu und murmelte: »Am Ende hat sich der kleine Narr noch in der Nacht auf den Rückweg gemacht und irrt jetzt irgendwo im Unterholz herum.«
»Bußübungen und ein paar Tage bei Wasser und Brot im Kerker werden Eurem Schreiber den Schlendrian schon austreiben und ihn lehren, seinen Pflichten nachzukommen«, bemerkte Bruder Fridegist, während er nach einem gepellten Ei griff, das er wohlgefällig betrachtete.
Unbehaglich dachte Bandolf an den finsteren Kerker, der sich unmittelbar unter seinen Füßen im Erdgeschoss des Bergfrieds befand. Das Angstloch in der Mitte der kleinen Halle, verborgen unter den Binsen, war der einzige Zugang. Mit nicht geringem Stolz hatte Meister Sigbrecht dem Burggrafen bei seiner Ankunft gezeigt, wie er die Falltür über der Öffnung mittels eines Hebels auftun könnte,
sodass der Übeltäter durch das plötzlich entstandene Loch im Boden hinunter in den Kerker stürzte.
»Welche Bußübungen Ihr Euren Schutzbefohlenen auferlegt, ist Eure Angelegenheit. Wer in den Kerker kommt, ist jedoch meine«, erwiderte er scharf.
»Gewiss.« Eine Spur Enttäuschung schien in Bruder Fridegists Stimme mitzuschwingen.
Bandolf runzelte die Stirn. »Da Ihr just von Pflichten sprecht: Habt Ihr die Urkunde, die ich Euch auszustellen bat, nun endlich fertiggestellt?«
»Bedauerlicherweise hatte ich noch keine Gelegenheit dazu«, murmelte der Kaplan undeutlich in den fleckigen Ärmel seiner Kutte, mit dem er sich den Mund abwischte.
»Wenn ich mich recht entsinne, gab ich Euch diesbezüglich Order kurz nach Eurer Ankunft. Wollt Ihr mir sagen, Ihr hättet in diesen Wochen noch keine Zeit für die Ausfertigung einer einfachen Urkunde gefunden?«, fragte Bandolf. Mit einem Anflug von Sarkasmus fügte er hinzu: »Ich werde meinen Sohn wohl schon aufs Pferd setzen, bevor seine Mutter mein Geschenk anlässlich seiner Geburt erhält?«
Eine feine Röte überzog Bruder
Weitere Kostenlose Bücher