Das Geheimnis der Eulerschen Formel
bildeten eine ebenmäßige Reihe – lückenlos, glasklar, mit einer grazilen Spannung.
Zusammen mit der Artin-Vermutung und der Teilersumme von 28 verschmolz sie zu einem harmonischen Gesamtgefüge, das uns vollständig umgab. Jede Zahl war wie eine Masche in dem Spitzengewebe, die mit anderen ein kunstvolles Muster ergab. Ich wagte kaum zu atmen und saß ganz still, um nicht mit den Füßen zu scharren und aus Versehen eine der Zahlen zu verwischen.
Mich überkam das Gefühl, dass sich mir in diesem Augenblick das Geheimnis des Universums offenbarte.
»Nun …«, sagte der Professor. »Wir sollten langsam heimkehren.«
»Ja«, erwiderte ich mit einem Kopfnicken. »Root wird gleich eintreffen.«
»Root?«
»Mein zehnjähriger Sohn. Der mit dem flachen Schädel – deshalb heißt er Root.«
»Ach, Sie haben einen Sohn? Eine Mutter muss zu Hause sein, wenn ihr Kind aus der Schule kommt. Wir sollten uns beeilen. Es gibt nichts Schöneres, als das eigene Kind zu hören, wenn es zur Tür hereinkommt.«
Mit diesen Worten erhob sich der Professor.
Plötzlich hörten wir vom Sandkasten her ein Schluchzen. Ein kleines Mädchen stand weinend da und hielt seine kleine Schaufel fest umklammert. Wahrscheinlich hatte sie Sand in die Augen bekommen. Sogleich stand der Professor neben ihr und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu trösten. Vorsichtig klopfte er ihr den Sand vom Röckchen. Wie ich ihn so sah, wurde mir klar, dass er nicht nur Root, sondern alle Kinder gernhatte.
»Lassen Sie das gefälligst!« herrschte ihn die herbeieilende Mutter des Mädchens an, schlug seine Hand beiseite, packte ihr Kind und zog es hastig mit sich fort.
Ratlos blieb der Professor mitten im Sandkasten stehen. Ich sah nur seinen Rücken und wusste nicht so recht, wie ich ihn trösten sollte. Kirschblüten fielen von den Bäumen herab auf das Geheimnis des Universums, um mit ihm ein neues Muster zu bilden.
»Ich habe meine Hausaufgabe gemacht. Und jetzt müssen Sie das Radio reparieren lassen, wie Sie es versprochen haben.«
Das waren Roots erste Worte, als er zur Tür hereinkam.
»Hier, sehen Sie«, sagte er und hielt dem Professor sein Rechenheft direkt vor die Nase.
1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 + 9 + 10 = 55
Der Professor studierte Roots Gleichung, als würde er einen hoch komplizierten mathematischen Beweis prüfen. Da er sich nicht daran erinnern konnte, weshalb er ihm die Aufgabe gestellt hatte und wieso er das Radio reparieren sollte, hoffte er vermutlich, die Antwort ließe sich in den Zahlen finden.
Der Professor vermied es sorgfältig, Root und mir Fragen zu stellen über Dinge, die sich vor mehr als achtzig Minuten zugetragen hatten. Wir hätten ihm natürlich gerne erklärt, was es mit der Rechenaufgabe und der Reparatur des Radios auf sich hatte, aber er fragte nicht danach, sondern bemühte sich, selbst eine Erklärung dafür zu finden. Da er früher ein brillanter Wissenschaftler war, wusste er sicher bestens Bescheid, wie es um sein Gedächtnis bestellt war. Es war sicher kein Stolz, der ihn davon abhielt, uns um Hilfe zu bitten, sondern er wollte seinen Mitmenschen, die in einer normalen Welt mit einem funktionierenden Erinnerungsvermögen lebten, nicht zur Last zu fallen. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, keine unnötigen Bemerkungen zu machen.
»Aha, hier haben wir eine Addition der Zahlen von 1 bis 10.« Langsam tastete sich der Professor an die Sache heran.
»Es stimmt doch, oder? Ich habe immer wieder nachgerechnet, und ich bin sicher, dass es richtig ist.«
»Ja, es stimmt!«
»Gut, dann bringen wir jetzt das Radio in den Elektroladen und lassen es dort reparieren.«
»Einen Moment noch, Root!«
Der Professor hüstelte, offenbar um Zeit zu gewinnen.
»Würdest du mir verraten, wie du zu dem Ergebnis gekommen bist?«
»Es war kinderleicht. Ich habe alles der Reihe nach zusammengezählt.«
»Das ist eine rechtschaffene Art, auf das Ergebnis zu kommen. Eine Methode, gegen die niemand etwas einwenden kann.«
Root nickte.
»Aber nehmen wir mal an, du hättest einen richtig gemeinen Lehrer, der dich auffordert, alle Zahlen von 1 bis 100 zu addieren. Was würdest du dann tun?«
»Ich würde sie natürlich zusammenzählen.«
»Das glaube ich dir gern. Du bist willensstark und mutig. Insofern wirst du auch die Summe von 1 bis 100 herausbekommen. Aber wenn dein Lehrer nun ein richtig böser Mensch wäre, der dich demütigen will und von dir verlangt, alle Zahlen von 1 bis 1.000 zusammenzuzählen? Oder
Weitere Kostenlose Bücher