Das Geheimnis der Eulerschen Formel
machen, ganz im Gegenteil, er wirkte verkrampfter denn je.
»Schauen Sie nur, die Kirschbäume stehen in voller Blüte!«
Ich versuchte ihn irgendwie aufzumuntern, doch der Professor brummte nur geistesabwesend vor sich hin. Draußen im Freien wirkte er fast senil.
Wir steuerten zuerst den Friseur an, der sich als taktvoller freundlicher Mann erwies. Nachdem er beim Anblick der sonderbaren Aufmachung kurz zurückgeschreckt war, verstand er schnell, dass bestimmte Umstände dafür verantwortlich sein mussten. Danach behandelte er uns ausgesprochen liebenswürdig. Er hielt uns für Vater und Tochter.
»Sie sind bestimmt froh, mein Herr, dass Ihre Tochter Sie begleitet, nicht wahr?«
Weder der Professor noch ich widersprachen ihm. Ich saß auf dem Sofa inmitten der anderen männlichen Kunden und wartete, bis ihm die Haare geschnitten waren.
Vielleicht hatte der Professor besonders unliebsame Erinnerungen an einen Friseurbesuch. Jedenfalls wirkte er nun sichtlich nervös, als ihm der Umhang um den Hals gebunden wurde. Seine Gesichtszüge erstarrten. Er krallte seine Finger in die Armlehnen, und eine tiefe Furche bildete sich auf seiner Stirn. Der Friseur versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um ihn zu beruhigen, aber es war vergeblich.
Stattdessen fragte der Professor ihn aus.
»Welche Schuhgröße haben Sie?«
»Wie lautet Ihre Telefonnummer?«
Die Fragen schossen nur so aus ihm heraus, woraufhin alle im Raum verstummten.
Obwohl er mich eigentlich im Spiegel sehen konnte, drehte sich der Professor hin und wieder argwöhnisch zu mir um, wohl um sich davon zu überzeugen, dass ich mein Versprechen hielt. Der Friseur war dann gezwungen, eine kurze Pause einzulegen, er beklagte sich aber nicht. Ich lächelte zurück und winkte kurz, um dem Professor zu bedeuten, dass ich tatsächlich wartete.
Weiße Haarbüschel fielen zu Boden. Der Friseur ahnte bestimmt nicht, dass im Kopf dieses Mannes ein Gehirn arbeitete, das alle Primzahlen bis in die Millionen auswendig kannte. Und ebenso wusste keiner der anderen Kunden, die ungeduldig auf dem Sofa darauf warteten, dass dieser skurrile alte Mann endlich den Laden verließ, etwas von der geheimnisvollen Verbindung zwischen meinem Geburtsdatum und der Nummer auf seiner Armbanduhr. Bei dem Gedanken war ich sogar ein wenig stolz, und ich schenkte dem Professor ein noch herzlicheres Lächeln.
Nach dem Friseurbesuch setzten wir uns auf eine Parkbank und tranken Kaffee, den ich aus einem Automaten gezogen hatte. In der Nähe befanden sich ein Sandkasten, ein Springbrunnen und ein Tennisplatz. Bei jedem Windstoß tanzten Kirschblüten durch die Luft, und flirrendes Sonnenlicht umstrahlte die Silhouette des Professors. Die Zettel an seinem Anzug flatterten unablässig. Er starrte in den Kaffee, als wüsste nicht, was für ein Getränk er da gerade zu sich nahm.
»Ich hab’s doch gewusst. Sie sehen gleich viel besser aus.«
»Hören Sie auf mit dem Quatsch!« wehrte sich der Professor, der nicht wie sonst nach Papier, sondern nach Rasierwasser roch.
»Auf welches Fachgebiet in der Mathematik haben Sie sich denn eigentlich an der Universität spezialisiert?« fragte ich ihn, obwohl zu befürchten war, dass ich die Antwort gar nicht verstand. Da ich aber dankbar war, dass er meiner Bitte gefolgt und das Haus verlassen hatte, wollte ich ihm eine Freude machen.
»Auf jenen Bereich, den man als die Königin der Mathematik bezeichnet«, erwiderte er und schlürfte ein wenig von seinem Kaffee.
»Edel und schön wie eine Königin, aber auch grausam wie ein Dämon. Ich habe die Beziehungen zwischen ganzen Zahlen untersucht, die Zahlen, die jeder kennt: 1, 2, 3, 4, 5 …«
Ich war erstaunt, dass er den Begriff »Königin« gebrauchte, denn es klang nach einem Märchen. In der Ferne hörte man das Hin und Her eines Tennisballs. Jogger, Radfahrer und Mütter mit Kinderwagen gingen an uns vorbei und schauten peinlich berührt weg, sobald sie den Professor bemerkten.
»Sie wollten also Zusammenhänge zwischen diesen Zahlen aufdecken, ja?«
»Genau. Es geht ums Entdecken, nicht ums Erfinden. Es gilt, Lehrsätze zu Tage zu fördern, die schon seit ewigen Zeiten existieren, ohne bisher von jemandem beachtet worden zu sein. So als würde man Zeile für Zeile die Wahrheit entziffern, die in Gottes Notizbuch steht. Aber niemand vermag zu sagen, wo dieses Notizbuch liegt und wann es aufgeschlagen wird.«
Als er von den Lehrsätzen sprach, deutete er auf den Punkt im All, auf den er
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