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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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Formeln des Professors waren in Schatten getaucht.
    »Ich hätte das nicht erwähnen dürfen«, sagte Root. »Aber ich hatte keine Ahnung, dass der Professor Enatsu so bewundert.«
    »Ich habe es auch nicht gewusst«, tröstete ich ihn, und obwohl ich wusste, dass es nicht ganz stimmte, fügte ich hinzu: »Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut werden. Morgen wird der Professor wieder glauben, dass Enatsu immer noch bei den Tigers spielt.«
    Die Aufgabe für Root erwies sich als ebenso schwierig zu lösen wie das Problem mit Enatsu.
    Der Professor hatte recht gehabt mit seiner Vermutung, dass die Reparatur des Radios länger dauern würde. Der Elektrohändler, zu dem wir es gebracht hatten, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als er das uralte Modell sah, und konnte uns nicht versprechen, es überhaupt reparieren zu können. Aber er wollte sich bemühen, den Auftrag innerhalb einer Woche auszuführen. Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, widmete ich mich nun der Aufgabe, eine neue Methode zu finden, anhand derer man die Summe der natürlichen Zahlen von 1 bis 10 ermitteln kann. Eigentlich sollte sich ja Root damit befassen, aber er hatte schnell aufgegeben und mir die Sache aufgehalst. Der unliebsame Vorfall mit Enatsu machte mir immer noch zu schaffen. Daher wollte ich den Professor nicht noch einmal enttäuschen, sondern ihm eine Freude bereiten. Und das ging nur über Zahlen, etwa anderes kam nicht infrage.
    Ich fing an, die Gleichung laut vorzulesen, so wie es der Professor zuvor Root empfohlen hatte:
    »1 + 2 + 3 + … = 55. 1 + 2 + 3 + …«
    Aber das half auch nicht, die Lösung zu finden. Mir wurde nur bewusst, dass die Gleichung relativ klar aussah im Vergleich mit dem, was ich erreichen wollte.
    Zunächst schrieb ich die Zahlen nebeneinander in eine Reihe, dann untereinander, ich sortierte sie nach geraden und ungeraden Zahlen, nach Primzahlen und Nicht-Primzahlen und so weiter. Ich nahm Streichhölzer zu Hilfe und Murmeln. Bei jeder erdenklichen Möglichkeit hielt ich inne, um mir auf der Rückseite von irgendwelchen Werbeprospekten die Zahlen zu notieren und der Sache auf den Grund zu gehen.
    Als ich nach befreundeten Zahlen suchte, brauchte ich immer nur die gleiche Rechenoperation anzuwenden, um früher oder später zu einem Ergebnis zu kommen. Aber diesmal war alles anders. Egal, in welche Richtung ich meine Angel auswarf, ich fischte im Trüben und blieb ratlos zurück. Ja, ich wusste nicht einmal, was genau ich da trieb. Entweder bewegte ich mich im Kreis, oder ich machte nach jedem Schritt zwei zurück. Jedenfalls war ich weit entfernt von einer Lösung. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, auf die Rückseite des Prospekts zu starren.
    Aber ich gab nicht auf. Seit meiner Schwangerschaft hatte ich mir nicht mehr so den Kopf zerbrochen.
    Es war schon merkwürdig, dass ich mich ernsthaft mit einer Aufgabe befasste, die einem Kind gestellt wurde und überhaupt keinen praktischen Nutzen hatte. In meinen Gedanken rückte der Professor immer weiter in den Hintergrund, und die ganze Sache geriet zu einem regelrechten Kampf zwischen mir und der Aufgabe selbst. Bereits morgens beim Aufwachen spukte die Gleichung in meinem Kopf herum und trieb dort den ganzen Tag lang ihr Unwesen. Sie brannte sich förmlich in meine Netzhaut ein, sodass ich meinen Blick nicht von ihr abwenden konnte.
    Anfangs fand ich es eher lästig, aber schon bald wurde daraus eine regelrechte Obsession. Nur wenige Menschen wissen, was hinter dieser Gleichung steckt, die meisten werden sterben, ohne je von ihr gehört zu haben. Durch einen Wink des Schicksals stand eine einfache Haushälterin, die eigentlich nichts mit derartigen Formeln zu schaffen hatte, an der Pforte zu diesem Geheimnis. Als ich von der Akebono-Agentur dem Professor zugeteilt wurde, ahnte ich noch nicht, dass das Schicksal eine derartige Mission für mich bereithielt.
    »Sag mal, sehe ich nicht auch schon aus wie der Professor, wenn er nachdenkt?« fragte ich Root. Ich presste meine Hand an die Schläfe und hielt den Bleistift krampfhaft umklammert. An diesem Tag hatte ich bereits alle vorhandenen Prospekte vollgekritzelt, ohne der Lösung näher gekommen zu sein.
    »Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Root. »Wenn der Professor seine Aufgaben löst, hält er keine Selbstgespräche wie du. Und er reißt sich auch keine Haare aus. Er ist zwar körperlich anwesend, aber seine Gedanken sind woanders. Außerdem sind die Probleme, mit denen er sich

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