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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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befasst, bestimmt viel schwieriger.«
    »Das ist mir auch klar. Aber für wen mache ich mir denn die Mühe, hm? Leg mal dein Baseball-Magazin für einen Moment beiseite und hilf mir!«
    »Wieso? Ich bin schließlich erst ein Drittel so alt wie du. Und außerdem kann ich unmöglich so eine Aufgabe lösen.«
    »Aber dass du jetzt so schnell Bruchrechnen gelernt hast, ist doch ein Riesenfortschritt. Das hast du dem Professor zu verdanken.«
    »Ja schon …«
    Root warf einen Blick auf die Prospektrückseite und nickte bedeutungsvoll.
    »Ich glaube, du bist auf der richtigen Fährte«, sagte er.
    »Das klingt nicht gerade aufmunternd!«
    »Es ist aber besser als nichts.«
    Und flugs war er wieder in sein Baseball-Magazin vertieft.
    Schon als kleiner Junge hat er mich zu trösten gewusst, wenn ich, von meinen Arbeitgebern gedemütigt, in Tränen aufgelöst heimkehrte. (Sei es, dass man mich zu Unrecht beschuldigte, etwas gestohlen zu haben, oder dass ich als unfähig beschimpft wurde oder das Essen, welches ich zubereitet hatte, vor meinen Augen in den Müll wanderte.)
    »Es wird alles gut werden, weil du eine wunderschöne Frau bist«, sagte er dann immer voller Überzeugung. Für ihn waren diese Worte das Höchste, was er an Trost spenden konnte.
    »Ach, findest du wirklich, dass ich schön bin …?«
    »Aber natürlich, wusstest du das nicht?« erwiderte er dann mit gespieltem Erstaunen und versicherte mir aufs Neue: »Bitte mach dir keine Sorgen. Du bist eine Schönheit.«
    Manchmal täuschte ich vor zu weinen, obwohl mir gar nicht danach zumute war, nur um seine tröstenden Worte zu hören. Und er spielte immer mit.
    »Weißt du, was mir auffällt …?« sagte Root plötzlich. »Bei all den Zahlen von 1 bis 10 fällt die 10 doch irgendwie aus der Reihe.«
    »Wieso das denn?«
    »Na ja, die 10 ist doch die einzige zweistellige Zahl.«
    Das stimmte in der Tat. Ich hatte zwar alle Zahlen auf jede erdenkliche Art und Weise sortiert, aber dabei nicht beachtet, wie sie sich in ihrer Beschaffenheit voneinander unterschieden. Darauf war ich gar nicht gekommen.
    Als ich nun die Zahlenreihe aufs Neue betrachtete, erschien es mir fast absurd, dass mir diese Eigenheit nicht früher aufgefallen war. Ich hatte die 10 keines Blickes gewürdigt, dabei war sie die einzige Zahl, die man nicht in einem Zug schreiben konnte.
    »Wenn die 10 nicht wäre, würde eine Zahl im Mittelpunkt stehen. Dann würde alles viel ordentlicher aussehen.«
    »Was meinst du mit Mittelpunkt?«
    »Das wüsstest du, wenn du beim letzten Elterntag da gewesen wärst. Ich fand das sehr schade, weil wir Sport hatten, mein Lieblingsfach. Als der Lehrer bei einer Übung die Anweisung gab, dass sich jede Reihe zur Mitte hin aufstellen sollte, hob derjenige im Zentrum die Arme über den Kopf, und wir anderen reihten uns auf beiden Seiten neben ihm auf. Wenn eine Reihe aus neun Schülern bestand, befand sich der Fünfte genau in der Mitte. Mit zehn Schülern hätte das nicht geklappt. Nur einer mehr, und es gab keinen Mittelpunkt mehr.«
    Ich folgte Roots Vorschlag, ließ die 10 beiseite und schrieb die restlichen neun Zahlen in eine Reihe nebeneinander, wobei ich um die 5 einen Kreis malte. Sie bildete nun das Zentrum, vier Zahlen standen davor, vier dahinter. Aufrecht stand sie da, die Arme in die Höhe gereckt, und behauptete souverän ihren rechtmäßigen Platz.
    Plötzlich empfand ich ein nie gekanntes Hochgefühl. Inmitten einer unbarmherzigen, trostlosen Wüste verspürte ich plötzlich einen Lufthauch, und vor meinen Augen eröffnete sich ein unbetretener Pfad, an dessen Ende ein Licht leuchtete, das mich führte. Ich spürte instinktiv, dass ich genau in diesem Augenblick einen bedeutenden Einfall hatte.
    Das Radio kam am Freitag aus dem Elektroladen zurück. Es war der 24. April – der Tag, an dem die Mannschaft der Tigers gegen die der Dragons antrat. Das Gerät stand mitten auf dem Tisch, wir saßen darum herum und lauschten der Berichterstattung. Root hatte so lange an den Knöpfen herumgedreht, bis er den richtigen Sender gefunden hatte. Das Signal war so schwach, dass man sich bildlich vorstellen konnte, wie die einzelnen Geräusche die lange Strecke hierher zurücklegten, aber es handelte sich zweifellos um das Baseballspiel. Immerhin war es das erste Zeichen aus der Außenwelt, seitdem ich in diesem Haushalt beschäftigt war. Jeder von uns dreien war freudig erregt.
    »Ich wusste gar nicht, dass man mit diesem Radio auch Baseball empfangen kann«,

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