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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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Vorstellung auf. Bestimmt hatte jeder von uns eine ganz eigene Vorstellung von ihnen, aber wenn der Professor das Wort »Primzahlen« aussprach, schauten wir drei uns an und tauschten verschwörerische Blicke aus. So wie allein schon der Gedanke an ein süßes Karamellbonbon den Mund wässrig macht.
    Die Abendstunden waren für uns drei eine kostbare Zeit. Die leise Anspannung, die sich jeden Morgen beim Professor einstellte, wenn er mir wie einer Fremden zum ersten Mal begegnete, war dann von ihm gewichen, und sobald Root anwesend war, brachte seine unschuldig vergnügte Stimme Leben ins Haus. Vielleicht prägte das meine Erinnerung an den Professor am stärksten: Immer sehe ich sein Profil, das von der untergehenden Sonne beleuchtet wird.
    Es war unvermeidlich, dass der Professor seine Ausführungen zu den Primzahlen stets von vorn begann. Aber Root und ich hatten uns fest vorgenommen, dass wir uns auf keinen Fall beklagen würden, wenn wir etwas schon wussten.
    Es war eine genauso wichtige Übereinkunft zwischen uns wie jene, ihm die Wahrheit über Enatsu zu verheimlichten. Sosehr uns diese Wiederholungen auch ermüdeten, wir bemühten uns stets, ihm aufmerksam zuzuhören. Diese Illusion aufrechtzuerhalten waren wir dem Professor einfach schuldig, denn er behandelte uns, als wären wir richtige Akademiker. Vor allem aber wollten wir ihn nicht unnötig verwirren. Jede Art von Irritation zog eine tiefe Traurigkeit nach sich. Wenn wir nichts sagten, bemerkte er gar nicht, was er alles vergessen hatte. Bei diesem Gedanken fiel es uns sogar leicht, nicht zu erwähnen, dass wir alles schon einmal gehört hatten.
    Es kam im Übrigen auch nie dazu, dass wir uns langweilten, wenn sich das Gespräch um Mathematik drehte. Selbst wenn er immer wieder auf die Primzahlen zu sprechen kam – auf den Beweis, dass eine unendliche Anzahl von ihnen existierte; auf Geheimcodes, die auf Primzahlen basierten; auf Zwillingsprimzahlen, die Mersenne-Primzahl –, all das bewirkte kleinste Abweichungen in seinen Erläuterungen, sodass wir uns entweder unseres Irrtums bewusst wurden oder etwas Neues entdeckten. Es brauchte nur einen Wetterumschwung oder einen anderen Tonfall in seiner Stimme, und schon erschienen auch die Primzahlen in einem anderen Licht.
    Für mich bestand ihr Zauber darin, dass sich nie genau voraussagen ließ, wann genau eine auftauchte. Sie waren einfach nicht dingfest zu machen, sondern mischten sich völlig zerstreut unter die anderen Zahlen. Je weiter man sich von Null entfernte, umso schwieriger waren sie auszumachen, und es war unmöglich, ihr Auftreten systematisch bestimmen zu wollen. Diese betörende Nonchalance wie bei einer Femme fatale zog den Professor in ihren Bann.
    »Lass uns sämtliche Primzahlen bis 100 aufschreiben«, schlug der Professor eines Tages vor, nachdem Root mit seinen Hausaufgaben fertig war. Er griff nach einem Stift und schrieb die Zahlen nebeneinander in einer Reihe auf:
    2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 37, 41, 43, 47, 53, 59, 61, 67, 71, 73, 79, 83, 89, 97.
    Es erstaunte mich immer wieder aufs Neue, wie souverän er die Zahlen förmlich aus dem Ärmel schüttelte. Wie schaffte er es nur, mit seiner zitternden Hand, die sonst nicht einmal den Schalter an einer Mikrowelle zu betätigen vermochte, Unmengen von Zahlen derart herumzukommandieren?
    Mir gefiel auch die Form der Ziffern, die er mit seinem Bleistift aufs Papier zauberte. Die 4 wirkte rund und üppig wie der Knoten einer Geschenkbandschleife, während die 5 sich derart weit vorlehnte, dass sie fast ins Stolpern geriet. Die einzelnen Zahlen waren zwar nicht besonders akkurat, aber alle besaßen ihre eigene Persönlichkeit. Seine Liebe zu den Zahlen, die der Professor zeit seines Lebens hegte, fand sich darin wieder.
    »Na, was haltet ihr davon?« Normalerweise eröffnete er das Gespräch mit einer abstrakten Frage.
    »Die sind ja ganz verstreut«, antwortete Root, wie üblich als Erster.
    »Und die 2 ist die einzige gerade Zahl«, fügte er hinzu.
    Merkwürdigerweise fielen ihm immer die Außenseiter auf.
    »Ganz genau. Die 2 ist die einzige gerade Primzahl. Sie führt das Team als erster Schlagmann an. Schreitet allein voran und schleift das endlose Gefolge der anderen Primzahlen hinter sich her.«
    »Fühlt sie sich da nicht einsam?« fragte Root.
    »Überhaupt nicht! Mach dir darüber keine Sorgen. Falls sie Gesellschaft braucht, kann sie einfach die Primzahlen verlassen und zu den geraden Zahlen gehen, wo sie eine

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