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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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passieren, dass man eine Zahlungsaufforderung für beschädigte Gegenstände in die Hand gedrückt bekam, für Möbel, Geschirr oder Kleidung.
    Bislang hatte ich es immer mit Fassung getragen, wenn ich entlassen wurde. Es gab auch nie einen Grund, übermäßig traurig oder gekränkt zu sein. Meine früheren Arbeitgeber hätten sich nicht mehr an meinen Namen erinnert, falls wir uns auf der Straße begegnet wären. Und bei mir war es nicht anders: Auch ich wusste nicht mehr, wie sie alle hießen. Sobald ich bei einem neuen Arbeitgeber eintraf, war ich so damit beschäftigt, mir die dortigen Regeln einzuprägen, dass mir keine Zeit mehr blieb für sentimentale Regungen.
    Aber dieses Mal war die Situation eine andere. Was mich am meisten schmerzte, war die Tatsache, dass der Professor sich überhaupt nicht an uns erinnerte. Er konnte weder seine Schwägerin fragen, weshalb ich nicht mehr kam, noch über Roots Fortbleiben bekümmert sein. Durch sein mangelndes Erinnerungsvermögen war es ihm unmöglich, in Erinnerungen an unsere gemeinsamen Erlebnisse zu schwelgen, während er im Sessel sitzend den Abendstern betrachtete oder in seinem Arbeitszimmer eine mathematische Aufgabe löste.
    Diese Einsicht war bitter. Ich war untröstlich, aber auch wütend, dass ich einen solch folgenschweren Fehler begangen hatte, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Deshalb konnte ich mich an meiner neuen Arbeitsstätte auch nur schlecht konzentrieren. Die meisten der mir auferlegten Arbeiten waren körperlich sehr anstrengend: Autos waschen, sämtliche Treppen in dem vierstöckigen Haus reinigen oder das Abendessen für eine zehnköpfige Gesellschaft zubereiten. Gleichzeitig spukte mir das Bild des Professors im Kopf herum, wie er mit hängenden Schultern auf der Bettkante saß. In Gedanken versunken, unterlief mir ein Missgeschick nach dem anderen, sehr zum Ärgernis der Hausherrin.
    Über meine Nachfolgerin beim Professor wusste ich nichts. Ich konnte nur hoffen, dass es jemand war, der meinem Porträt auf dem Notizzettel ähnlich sah. Ob der Professor seine neue Haushälterin auch nach dem Geburtsdatum und der Telefonnummer fragte? Ich muss zugeben, dass mir die Vorstellung, wie der Professor mit meiner Nachfolgerin mathematische Geheimnisse teilte, sehr unangenehm war. Es gab mir das Gefühl, als würde die Faszination für Zahlen, die er in mir geweckt hatte, langsam nachlassen, obwohl ich dank ihm genau wusste, dass die Zahlen an sich ewig währten, unabhängig von Vergangenheit und Zukunft und den sich wandelnden Geschehnissen in der Welt.
    Um mir selbst zu schmeicheln, malte ich mir insgeheim aus, wie die neue Haushälterin mit den Launen des Professors völlig überfordert war und bald das Handtuch werfen würde. Zu guter Letzt würde der Direktor dann einsehen müssen, dass ich als einzige Person diese schwierige Aufgabe meistern konnte. Solchen Illusionen gab ich mich öfter hin. Doch sobald ich mich dabei ertappte, schüttelte ich über mich selbst den Kopf und zwang mich, nicht mehr daran zu denken. Was bildete ich mir eigentlich ein, zu glauben, er würde ohne mich nicht zurechtkommen? Der Direktor hatte recht mit der Feststellung, dass es außer mir auch noch andere Haushälterinnen gab.
    »Wieso gehen wir nicht mehr zum Professor?« Root stellte immer wieder die gleiche Frage, worauf ich jedes Mal antwortete: »Die Situation dort hat sich geändert.«
    »Welche Situation?«
    »Ach, das ist alles sehr kompliziert.«
    Root schnaubte missmutig und zuckte dann mit den Schultern.
    Am Sonntag, dem 14. Juni, ließ Yufune von den Tigers im Spiel gegen Hiroshima keinen einzigen Treffer der gegnerischen Schlagmänner zu.
    Root und ich hörten uns nach dem Mittagessen die Übertragung im Radio an. Mayumi erzielte drei Punkte, und Shinjo schaffte einen Homerun. Am Ende des achten Durchgangs stand es 6 : 0 – der gleiche Spielstand wie neulich beim Spiel mit Nakagomi.
    Als die Schlagmänner der Hiroshima Carps einer nach dem anderen ausgeworfen wurden, verstummten wir vor dem Radio, während die Stimme des Reporters und der Jubel im Stadion immer lauter wurden. Im letzten Durchgang verpasste der erste der drei letzten Schlagmänner seine Chance mit einem Fehlschlag und schied aus.
    Root seufzte. Wir wussten beide, was der andere gerade dachte. Deshalb bedurfte es keiner überflüssigen Worte.
    Dann schlug Shoda, der letzte Schlagmann der Carps, den Ball ins Außenfeld, woraufhin das Geschrei der Zuschauer die Stimme des Reporters

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