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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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blieb alles beim Alten, egal ob ich herausfand, ob eine Zahl nun eine Primzahl war oder nicht. Noch immer türmte sich ein Berg von Arbeit vor mir auf, die erledigt werden musste. Der Kühlschrank tat weiter seinen Dienst, auch wenn er eine Primzahl als Seriennummer trug, während der Steuerzahler, der das Formular mit der Nummer 341 vor sich liegen hatte, sich mit vertrackten Sachverhalten herumschlagen musste. Eigentlich machten Zahlen das Leben nicht einfacher, sondern eher schwieriger.
    Im Kühlschrank schmolz die Eiscreme, und der Boden war noch nicht gewischt, was meinen Arbeitgebern allen Grund gab, sich über mich zu beschweren. Und dennoch blieb 2.311 eine Primzahl und 341 eine zusammengesetzte Zahl. Das war eine Wahrheit, die nie verblasste.
    Ich erinnerte mich an einen Ausspruch des Professors: »Die Ordnung der Zahlen ist deshalb so schön, weil sie im täglichen Leben keinen Nutzen hat.« Das Dasein wird weder leichter, noch ist es gewinnbringend, wenn man sich mit Primzahlen auskennt. Natürlich haben viele mathematische Entdeckungen praktische Auswirkungen auf unseren Alltag, egal wie abseitig sie ursprünglich erscheinen mochten. Die Berechnung von Ellipsen hat die Bestimmung der planetarischen Umlaufbahnen ermöglicht. Die nichteuklidische Geometrie hat Einstein dazu verholfen, die Form des Universums zu beschreiben. Sogar im Krieg haben Primzahlen eine bedeutende Rolle gespielt, indem sie die Grundlage von Geheimcodes waren. In diesem Fall eine hässliche Angelegenheit. Aber all das gehört nicht zur tieferen Bestimmung der Mathematik. Ihr einziges Bestreben liegt darin, die Wahrheit zu ergründen.
    Der Professor hielt den Begriff der Wahrheit für ebenso bedeutsam wie die Primzahlen.
    »Probieren Sie doch mal, eine gerade Linie zu zeichnen.« Wir saßen gerade beim Abendessen, als der Professor mich hierzu aufforderte.
    Mit einem Essstäbchen als Lineal zog ich auf der Rückseite eines Prospekts, der wie üblich unsere Schreibunterlage war, einen Strich.
    »Genauso sieht eine Gerade aus, gut gemacht. Aber denken Sie jetzt einmal nach! Bei Ihrem Strich gibt es einen Anfang und ein Ende. Er ist also nur ein Segment, der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten. Bei einer wahren Linie gibt es keine Endpunkte, sie erstreckt sich auf beiden Seiten ins Unendliche. Das Blatt Papier ist natürlich begrenzt, ebenso Ihre Zeit und Energie, also benutzen wir dieses Segment behelfsweise, um eine Linie darzustellen. Außerdem weist Ihre Linie eine gewisse Breite auf, ganz gleich, wie sehr Sie den Bleistift angespitzt haben. Damit besitzt sie streng genommen auch eine Oberfläche, sie ist also zweidimensional. Aber eine echte Gerade hat nur eine Dimension, was bedeutet, dass man sie unmöglich zu Papier bringen kann.«
    Ich schaute auf die Spitze meines Bleistifts.
    »Sie werden sich sicherlich fragen, wo man überhaupt eine echte Gerade finden kann. Die Antwort lautet: nur hier.«
    Dabei tippte er auf seine Brust. Genau wie damals, als er uns von den imaginären Zahlen erzählte.
    »Die ewigen Wahrheiten bleiben unsichtbar, unabhängig von materiellen Dingen, Naturphänomenen oder menschlichen Gefühlen. Aber die Mathematik kann das Wesen dieser Wahrheiten zum Ausdruck bringen. Daran kann sie niemand und nichts hindern.«
    Als ich mit leerem Magen den Boden wischte, wanderten meine Gedanken zu Root, und mir wurde bewusst, wie sehr ich dieser vom Professor beschworenen Wahrheiten bedurfte. Ich brauchte die Gewissheit, dass eine unsichtbare Welt der sichtbaren Halt gab. Eine sich in die Unendlichkeit erstreckende Gerade, ohne Breite und Fläche, die erhaben die Dunkelheit durchbrach. Diese perfekte Linie würde mir ein wenig Zuversicht geben.
    Ich war gerade vom Einkaufen zurück und wollte mit der Zubereitung des Abendessens beginnen, als mich im Haus der Steuerberater der Anruf einer Angestellten der Akebono-Agentur erreichte: »Begeben Sie sich bitte sofort zum Haus des Professors. Ihr Sohn hat irgendetwas Schlimmes angestellt. Ich weiß zwar nicht genau, um was es geht, aber Sie sollen sich beeilen! Das ist eine Anweisung vom Direktor höchstpersönlich.«
    »Mein Sohn? Was ist denn …« Ich wollte noch nachfragen, aber sie hatte schon aufgelegt.
    Mir kam sogleich der Fluch des verschlagenen Baseballs in den Sinn. Die Verkettung unglücklicher Ereignisse schien noch nicht beendet. Drohte der Baseball, dem wir entgangen zu sein glaubten, nun doch Roots Kopf zu verletzen? Der Professor hatte recht gehabt, als er

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