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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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des Sofas. Die Geräuschkulisse der beiden wirkte beruhigend und ließ mich den Fieberausbruch des Professors vergessen, sodass auch ich endlich einschlief.
    Am nächsten Morgen brach Root zur Schule auf, bevor der Professor erwachte. Er nahm die Tröte mit, die er seinem Freund zurückgeben wollte, vorher musste er aber noch bei uns zu Hause vorbei, um seine Schulsachen zu holen. Als ich nach dem Professor sah, schlief er zwar immer noch tief und fest, aber sein Gesicht glühte nun nicht mehr so stark, und auch sein Atem ging ruhiger. Jetzt machte mir eher Sorgen, dass er so lange schlief. Nachdem ich seine Stirn betastet hatte, schlug ich die Bettdecke zurück. Ich versuchte ihn durch Kitzeln zu wecken, blies ihm sogar ins Ohr, doch er zeigte keine Regung. Nur die Augäpfel rollten leicht unter den geschlossenen Lidern.
    Gegen Mittag, ich hatte gerade in der Küche zu tun, hörte ich dann endlich ein Geräusch aus dem Arbeitszimmer, und als ich nachschaute, fand ich ihn in seinem üblichen Aufzug vornübergebeugt auf der Bettkante sitzend.
    »Sie sollten nicht aufstehen. Sie haben Fieber und müssen sich ausruhen«, sagte ich zu ihm.
    Er blickte mich einen Moment schweigend an und schaute dann wieder zu Boden. Seine Augen waren getrübt, das Haar zerzaust und die Krawatte saß schief.
    »Ziehen Sie den Anzug wieder aus, damit wir Ihre Unterwäsche wechseln können. Sie haben die ganze Nacht über geschwitzt. Ich werde Ihnen nachher einen neuen Pyjama kaufen. Das Bett muss auch neu bezogen werden. Wenn alles frisch und sauber ist, werden Sie sich gleich besser fühlen. Sie waren ja völlig erschöpft. Das Baseballspiel hat über drei Stunden gedauert, das war einfach zu viel für Sie. Es tut mir leid, dass wir so unvernünftig waren, Sie mitzunehmen. Ihr Zustand ist aber nicht besorgniserregend. Sie müssen sich nur warm halten und ordentlich essen, das wird Sie wieder zu Kräften bringen. Aber zuerst müssen Sie etwas trinken. Soll ich Ihnen einen Apfelsaft bringen?«
    Als ich mich zu ihm hinunterbeugte, schob er mich weg und wandte sein Gesicht ab.
    Da erst bemerkte ich, dass ich einen schweren Fehler gemacht hatte. Der Professor hatte nicht nur vergessen, dass er gestern bei einem Baseballspiel zugeschaut hatte, sondern auch, wer ich war.
    Er saß zusammengesunken da und starrte reglos auf seine Brust, einzig sein Geist irrte durch unsichere Regionen. Verschwunden war die Leidenschaft, mit der er die Geheimnisse von Zahlen aufdeckte, genau wie die Zuneigung, die er für Root empfand. Alle Lebenskraft schien aus ihm gewichen zu sein.
    Kurz darauf hörte ich ihn leise schluchzen. Zuerst begriff ich gar nicht, dass das Geräusch von ihm kam. Ich hielt es für eine kaputte Spielzeugdose, die irgendwo im Zimmer erklang. Sein Schluchzen hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, das ich beim Kinderarzt von ihm vernommen hatte, als Root behandelt wurde. Es galt keinem anderen Menschen, sondern nur ihm selbst, einsam und verborgen.
    Der Professor las eine Notiz, die so an seinem Jackett festgemacht war, dass er sie nicht übersehen konnte:
Mein Erinnerungsvermögen dauert nur 80 Minuten
.
    Ich setzte mich zu ihm auf die Bettkante, ohne zu wissen, wie ich ihm helfen konnte. Mein Fehler zog schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Jeden Morgen nach dem Erwachen, wenn der Professor sich ankleidete, wurde er durch die angeheftete Notiz seines Leidens gewahr. Ihm kam zu Bewusstsein, dass sein Traum nicht von letzter Nacht stammte, sondern zu einer fernen Vergangenheit gehörte, als er noch sein Erinnerungsvermögen besaß.
    Sein Ich vom Vortag war in einen Abgrund der Zeit gestürzt. Und er war am Boden zerstört, weil ihm klar wurde, dass er es nicht mehr zurückholen konnte. Der Professor, der Root im Stadion vor dem fehlgeschlagenen Ball geschützt hatte, war längst in ihm gestorben. Mir war zuvor nie der Gedanke gekommen, welch grausame Entdeckung er Tag für Tag machte.
    »Ich bin Ihre Haushälterin«, erklärte ich, nachdem ich abgewartet hatte, bis das Schluchzen verebbt war. »Man hat mich angestellt, um Ihnen behilflich zu sein.«
    Er sah mich mit tränenverschleiertem Blick an.
    »Heute Abend kommt auch mein Sohn. Er heißt Root, wegen seines platten Schädels. Sie selbst haben ihm diesen Namen gegeben.«
    Ich zeigte auf den Zettel mit meinem Porträt, das an seinem Ärmel hing. Glücklicherweise war dieser gestern im Gedränge während der Busfahrt nicht verloren gegangen.
    »Wann haben Sie Geburtstag?«
    Seine

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