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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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übertönte, bis der sich schreiend Gehör verschaffte: »Der Ball ist aus, aus, aus!«
    »Geschafft«, sagte Root mit leiser Stimme. Ich nickte schweigend.
    »Das ist der 58. No-Hitter in der Geschichte des japanischen Profi-Baseballs … nach dem Rekord von Enatsu 1973 … also vor neunzehn Jahren …« Die Satzfetzen des Reporters drangen aus dem Radio.
    Wir waren beide unsicher, ob wir uns überhaupt freuen sollten.
    Die Tigers hatten gesiegt und Yufune noch dazu den Rekord eingestellt, aber das versetzte uns eher in eine wehmütige Stimmung. Der Jubel aus dem Radio rief uns das Baseballspiel vom 2. Juni ins Gedächtnis, als der Professor, der nun so unendlich weit von uns entfernt war, auf Platz 7-14 gesessen hatte. Dabei drängte sich mir der Gedanke auf, dass der Ball des unbekannten Ersatzspielers, der damals Root fast getroffen hätte, ein schlechtes Omen war.
    »So, nun muss ich aber das Abendessen zubereiten«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Root und schaltete das Radio aus.
    Jener Ball damals hatte eine Verkettung unglücklicher Ereignisse ausgelöst: Zuerst wurde der Professor krank, dann verlor ich meine Stelle. Natürlich war es unsinnig, all das dem Ball zuzuschreiben, aber es passte gut zu meiner seelischen Verfassung. Und die unglücklichen Ereignisse setzten sich fort.
    Eines Tages, als ich auf dem Weg zur Arbeit an der Bushaltestelle stand, nahm mir eine unbekannte Frau Geld ab. Sie war keine Diebin, ich hatte ihr das Geld gegeben, sodass kein Grund bestand, sie bei der Polizei anzuzeigen. Zielbewusst, fast majestätisch war sie auf mich zugeschritten, hatte grußlos die Hand aufgehalten und ohne Umschweife gesagt: »Geld!«
    Sie war eine hochgewachsene Frau Ende dreißig mit hellem Teint, und abgesehen davon, dass sie im Sommer einen Übergangsmantel trug, war nichts Auffälliges an ihr. Für eine Landstreicherin war sie zu manierlich gekleidet, und sie machte auch nicht den Eindruck, dass sie Hilfe brauchte, sondern wirkte eher ruhig und gelassen, als würde sie lediglich nach dem Weg fragen wollen. »Geld«, sagte sie abermals.
    Ich zog einen Schein aus dem Portemonnaie und legte ihn auf ihre Handfläche. Wieso, war mir selbst ein Rätsel. Was trieb mich nur, so einer Frau Geld zu geben, wo ich doch selbst so wenig hatte. Die Frau steckte den Schein in die Manteltasche und verschwand ebenso grußlos, wie sie sich mir genähert hatte, und zwar genau in dem Moment, als der Bus hielt.
    Während der Fahrt zum Steuerbüro versuchte ich mir auszumalen, was die Frau wohl mit meinem Geld anfangen mochte. Wollte sie davon Brot für ihre hungernden Kinder kaufen? Oder Medikamente für ihre kranken Eltern? Oder würde es sie davon abhalten, mitsamt ihrer Familie Selbstmord zu begehen? Aber keiner dieser Gedanken beruhigte mich. Ich fühlte mich erbärmlich, so als wäre ich diejenige gewesen, die ein Almosen bekommen hatte.
    Anlässlich ihres Geburtstages besuchten Root und ich das Grab meiner Mutter. Im Dickicht hinter dem Grabstein lag der Kadaver eines Rehkitzes. Es war noch nicht vollständig verwest, Reste des gefleckten Fells spannten sich über das Rückenskelett. Alle viere von sich gespreizt, hatte das Junge offenbar bis zuletzt versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Die Organe hatten sich verflüssigt, die Augen waren nur mehr dunkle Höhlen, und im halb offen stehenden Maul konnte man die kleinen Zähne sehen.
    Root hatte es zuerst bemerkt. Er stieß einen Schrei aus und zeigte auf das tote Tier. Danach brachte er, ohne den Blick von dem Tier abwenden zu können, kein Wort mehr heraus.
    Wahrscheinlich war das Kitz den Abhang hinuntergesprungen und dann gegen den Grabstein geprallt. Bei näherem Hinsehen entdeckten wir Blutspuren und Hautfetzen an dem Stein.
    »Was sollen wir nur tun?«
    »Am besten, wir lassen es hier liegen«, sagte ich.
    Wir beteten länger für das Kitz als für die Seele meiner Mutter, hofften, das kleine Tier möge sie auf ihrer weiten Reise begleiten.
    Am nächsten Tag war Roots Vater im Lokalteil der Zeitung abgebildet. Dem Artikel zufolge hatte er einen Forschungspreis erhalten. Es war nur eine kurze Mitteilung mit einem unscharfen Foto, aber ich erkannte ihn sofort wieder. Die letzten zehn Jahre waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Ich zerknüllte die Zeitung und warf sie in den Mülleimer. Nach einer Weile besann ich mich und holte sie wieder heraus. Ich glättete die Seite und schnitt den Artikel mit einer Schere aus. Er war immer noch zerknittert.
    Was soll

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