Das Geheimnis Der GroÃ?en Schwerter / Die Nornenkönigin: Bd 3
Erwachsensein bedeutete? Eine Menge Narben zu haben? Er nahm an, dass es wohl auch hieß, aus seinen Verwundungen zu lernen – aber welche Lehren konnte er aus seinen Erlebnissen im vergangenen Jahr ziehen?
Lass nicht zu, dass man deine Freunde umbringt, dachte er mürrisch. Das ist schon mal eine. Geh nicht hinaus in die Welt, damit du nicht von Ungeheuern und Verrückten gejagt wirst. Das ist eine andere. Mach dir keine Feinde.
So weit die weisen Ratschläge, mit denen andere Leute ihn immer so eifrig bedachten. Aber es war nie so einfach, wie es in Vater Dreosans Predigten geklungen hatte, in denen die Menschen eine klare Wahl zwischen dem Weg des Bösen und Ädons Weg gehabt hatten. Wie Simon in letzter Zeit die Welt erfahren hatte, konnte man sich immer nur zwischen zwei gleichmäßig unerfreulichen Möglichkeiten entscheiden, bei denen Gut und Böse lediglich eine verschwindend geringe Rolle spielten.
Das Pfeifen des Windes, der durch die Kuppel der Sternwarte fegte, wurde schriller. Es zerrte an Simons Nerven. Trotz der Schönheit der kunstvoll gemeißelten, perlweißen Mauern blieb der Ort abweisend. Die Winkel waren sonderbar, die Proportionen schmeichelten einem fremdartigen Geschmack. Wie andere Werke ihrer unsterblichen Baumeister gehörte auch die Sternwarte ganz und gar den Sithi. Sterbliche konnten sich hier nie wirklich wohl fühlen.
Unruhig stand Simon auf und fing an, hin- und herzugehen. Das leise Echo seiner Schritte verlor sich im Summen des Windes. Was ihn an dieser großen, kreisrunden Halle besonders fesselte, war unter anderem die Tatsache, dass es hier Steinfußböden gab, etwas, das die Sithi heute nicht mehr zu bauen schienen. Erinnerungen an die warmen, grasigen Wiesen von Jao é-Tinukai’i stiegen in ihm auf,und er bewegte die Zehen in seinen Stiefeln. Er war dort barfuß gegangen, und jeder Tag war ein Sommertag gewesen. Als er daran dachte, verschränkte er die Arme über der Brust, als suche er Wärme und Trost.
Der Boden der Sternwarte bestand aus kunstvoll geschnittenen und aneinandergefügten Platten, während die kreisrunde Mauer aussah wie gewachsen. Vielleicht war sie aus dem Fels des Abschiedssteins selbst gemeißelt worden. Simon überlegte. Auch die anderen Bauwerke hier oben hatten keine sichtbaren Fugen. Wenn die Sithi alle Häuser auf dem Gipfel unmittelbar aus dem felsigen Gebein des Hügels herausgehauen und sich außerdem noch tief in Sesuad’ras Inneres hineingearbeitet hatten – der Stein war anscheinend überall von Tunneln durchzogen –, woher hatten sie dann gewusst, wann sie aufhören mussten zu graben? Hatten sie keine Angst gehabt, der ganze Felsen würde einstürzen, wenn sie ein Loch zu viel gruben? Das schien ihm fast ebenso wundersam wie jeder andere Sithizauber, von dem er gehört oder den er gesehen hatte, und genauso unerreichbar für Sterbliche: zu wissen, wann man aufhören muss.
Simon gähnte. Usires Ädon, war diese Nacht lang! Er blickte hinauf zum Himmel, zu den Sternen, die glühend dahinrollten.
Ich will hinaufklettern. Ich will den Mond anschauen.
Er ging über den glatten Steinfußboden zu einer der langen Treppen, die sich auf der Innenseite der Kuppel allmählich nach oben wendelten. Im Steigen zählte er die Stufen. Das hatte er im Lauf dieser langen Nacht schon mehrmals getan. Auf der hundertsten Stufe setzte er sich hin. Der diamantene Strahl eines ganz bestimmten Sterns, der in der Mitte einer seichten Einkerbung der bröckelnden Kuppel gestanden hatte, als Simon zuletzt hier oben gewesen war, schien jetzt auf den Rand der Kerbe. Bald würde er hinter dem Überrest des Kuppeldachs verschwunden und außer Sicht sein.
Gut. Wenigstens etwas Zeit war vergangen. Die Nacht war lang, und die Sterne waren fremd, aber zumindest setzte die Zeit ihren Lauf fort.
Simon kam auf die Füße und stieg weiter, kletterte ohne Mühe die schmale Treppe hinauf, trotz eines leichten Schwindelgefühls, das ein langer Schlaf unzweifelhaft vertreiben würde. Er kletterte,bis er den höchsten Treppenabsatz erreicht hatte, einen von Pfeilern gestützten Steinkragen, der einst das gesamte Gebäude umgeben hatte. Jetzt war er schon lange zerfallen und größtenteils eingestürzt, sodass er sich nur noch ein paar kurze Ellen über das Verbindungsstück zur Treppe hinaus erstreckte. Die Oberkante der hohen Außenmauer reichte gerade bis über Simons Kopf. Ein paar vorsichtige Schritte brachten ihn zu einer Stelle des Treppenabsatzes, an der die Kuppel so
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