Das Geheimnis der Hebamme
war, würde sich der Rest der Wachmannschaft die Zeit bestimmt bei Bier und Würfelspiel vertreiben und nachlässiger sein als sonst.
Sie schaute sich wieder um, ob jemand in der Nähe war, dann lief sie ein paar Schritte zum Fluss, schöpfte Wasser und trank. Obwohl ihr Magen wie zugeknotet war, aß sie auch von dem Brot, das ihr Elisabeth mitgegeben hatte. Falls die Männer Christian wirklich befreien konnten und ihre Schreckensbilder zutrafen, dann würde sie bald alle Hände voll zu tun haben.
Wieder rief sie sich Christians Bild ins Gedächtnis, seine scharf geschnittenen Gesichtszüge, seine dunklen Augen, und betete stumm.
Der Schrei eines Eichelhähers riss sie aus ihren Gedanken.
Sie spähte durch das Gebüsch und sah die Erwarteten kommen. Zwischen zwei Pferden war eine Trage befestigt. Christian! Also lebte er? Einen Leichnam hätten die Männer bestimmt einfach über den Pferderücken gelegt.
Erleichtert trat sie aus ihrem Versteck und winkte den Ankömmlingen zum Zeichen, dass alles in Ordnung war.
Die Männer hatten Blutspuren auf ihrer Kleidung, aber niemand schien ernsthaft verwundet.
Doch als sie Christian sah, zog sich ihr Herz zusammen und Tränen stiegen ihr in die Augen. Er lag in tiefer Bewusstlosigkeit und glühte im Fieber. Seine Wangen waren eingefallen, blutverschmiert und von Bartstoppeln bedeckt, eine große Platzwunde klaffte über der rechten Augenbraue. Unter der zerrissenen Kleidung waren die Spuren grausamer Folterung zu erkennen: Blutergüsse in allen Farbschattierungen, Peitschenstriemen, Brandmale. Und als ihr Blick auf die von Ketten wund gescheuerten, eitrigen Handgelenke fiel, sah sie, dass ihm jemand mehrere Fingernägel herausgerissen hatte.
Behutsam hoben die Männer den leblosen Körper in das schwankende Boot. Gero und Richard preschten auf den Pferden davon, während Raimund und Lukas das Boot vom Ufer abstießen. Die Strömung ließ sie schnell flussabwärts gleiten.
Marthe, die hinter Christians Kopf kniete, vergaß alles um sich und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Eine genaue Bestandsaufnahme der Verletzungen war erst möglich, wenn sie eine sichere Zuflucht erreicht hatten. Aber eines konnte sie jetzt schon tun.
Nach einem stummen Gebet legte sie vorsichtig ihre Hände auf Christians Schläfen. Wieder spürte sie das Prickeln in den Handflächen, das von der Lebenskraft kündete, die von ihrem Körper in seinen floss. Doch dann fühlte sie immer stärkerden Nachhall seiner Schmerzen durch ihre Hände strömen. Ihr war, als würde sie von einem Sog in ein schwarzes Loch gerissen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
Raimunds Stimme brachte sie wieder zu sich. Der Ritter hatte hastig sein Ruder beiseite gelegt und ihre Hände von Christians Kopf gelöst.
Sie blinzelte benommen.
»Du bist totenblass geworden und wärst beinahe umgefallen«, meinte Raimund besorgt.
Er hatte selbst die heilende Kraft ihrer Hände kennen gelernt, auch wenn sie damals noch nicht so stark war, und ahnte, was geschehen war. »Lass es vorerst gut sein. Keinem ist geholfen, wenn du hier auch noch das Bewusstsein verlierst.«
Sie tauchte die Hand ins Wasser. Doch als sie Christians Stirn mit einem nassen Tuch kühlte, bemerkte sie etwas, das ihr wie ein Wunder vorkam: Ob nun durch ihre ersten Bemühungen oder das heftige Schaukeln des Bootes nach Raimunds Bewegungen – seine Augenlider begannen zu flattern.
»Gott sei gepriesen«, stieß sie aus.
Ein schwacher, trockener Husten schüttelte Christians Körper, dann schlug er die Augen auf und blickte mit fiebrigem, verwirrtem Blick in den Himmel über sich.
»Keine Angst, mein Freund, du bist nicht gestorben«, beeilte sich Raimund zu erklären. »Wir haben dich aus dem Loch herausgeholt und bringen dich in Sicherheit.«
Er sprach hastig vor lauter Sorge, dass Christians Geist wieder abdriften könnte. Während Marthe vorsichtig das verkrustete Blut aus dem Gesicht des Verletzten wusch, berichtete Raimund von der Befreiungsaktion: wie sie den Geheimgang zum Bergfried gefunden, die Wachen überwältigt und die Verliese durchsucht hatten.
»Du hattest die zweifelhafte Ehre, der einzige Insasse zu sein«,erzählte er im Plauderton, um sich von seiner Angst um den Freund nichts anmerken zu lassen, obwohl er nicht sicher war, dass Christian ihn überhaupt hörte und verstand.
»Wie es scheint, macht Randolf sonst keine Gefangenen. Aber den Trost kann ich dir spenden: Von deinen Peinigern ist außer ihm keiner mehr am Leben.
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