Das Geheimnis der Herzen
Kanada war. Meine beruflichen Meriten fühlten sich vollkommen nutzlos an, wie Orden an der Brust eines Kriegsinvaliden. Was bedeutete das alles schon? Die meisten Menschen, die ich liebte, waren tot oder fort. Mein ganzes Referenzsystem hatte sich verschoben. Ich befand mich buch stäblich zwischen den Welten und hatte noch einige Tage auf See vor mir, ehe ich wieder Land betreten würde. Sieben Tage zum Nachdenken. Die Verzögerung meiner Abreise war auch ein Segen gewesen, weil ich die letzten Wochen damit verbringen konnte, durch die Straßen von Brest zu wandern, ohne mit einer Menschenseele zu sprechen. Alleinsein war das, was ich gebraucht hatte, Zeit für einen inneren Heilungsprozess.
Ein paar Meter weiter warf ein junges Mädchen einer Möwe einen Brotbrocken zu, den der Vogel im Herabstoßen fing. Das Mädchen quietschte entzückt und machte eine weitere junge Frau, die neben ihr stand, auf die Möwe aufmerksam. Die beiden waren mir schon beim Einschiffen aufgefallen. Wie mehrere Passagiere auf diesem Dampfer, der nach Halifax unterwegs war, stammten auch sie aus Kanada. Sie trugen beide die Umhänge der Rotkreuzschwestern und sahen sich so ähnlich, dass sie echte Schwestern sein mussten. Ich musste natürlich gleich an Laure denken. Über dem Schiff stand die Möwe in der Luft und ruckte beim Schlucken mit dem Hals.
Beim Dinner saß ich mit den beiden am Tisch. Sie waren die erste menschliche Gesellschaft, die ich mir seit dem Treffen mit meinem Vater gestattete, und ich kam mir ziemlich unbeholfen vor. Sie seien auf der Heimfahrt nach Halifax, erzählten sie mir, nach zwei Jahren Dienst in Übersee. Zu uns gesellte sich noch ein Corporal des Princess Patricia’s Canadian Regiment, ein gut aussehender Mann mit einer Haarfarbe wie reifer Weizen. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies amputiert worden, und er ging an Krücken, das Hosenbein umgeschlagen und festgesteckt. Sobald er wieder in Kanada sei, sagte er, bekomme er von der Armee eine Prothese.
Ich hatte während der Zeit in Brest sehr bescheiden gelebt, von Suppen und Brot aus einer Bäckerei neben der Gîte , der Unterkunft, in der ich wohnte, und konnte eine anständige Mahlzeit jetzt gut vertragen. Und auch mein Hunger nach menschlicher Nähe war größer, als mir bewusst gewesen war. Das Lachen und das englische Geplapper der Mädchen taten mir gut. Die blonde Schwester teilte uns mit, dass der Schiffskoch einen ausgezeichneten Ruf habe. Es sei nämlich ein französisches Schiff, das mache einen enormen Unterschied. Wie zum Beweis kam ein etwa vierzehnjähriger Junge mit einer Flasche an unseren Tisch. Er ging schnurstracks zum Corporal, verbeugte sich und präsentierte das Etikett.
Die hellhaarige Schwester, die Nora hieß, lachte. »Ein Sommelier! Wie zivilisiert!«
Der Junge, der vermutlich auch für das Schrubben der Böden zuständig war, grinste und straffte die Schultern. Er entkorkte die Flasche vor unseren Augen und goss dem Corporal ein paar Tropfen von etwas Dunklem ins Glas. Nach dem rituellen Schwenken und Probieren, das alle sehr ernst zu nehmen schienen, nickte der Corporal zustimmend. Auch er sah aus, als hätte er schon seit einer halben Ewigkeit keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen – er genoss jeden Augenblick.
Der Junge schenkte uns ein. Wir erhoben unsere Gläser. Der Wein war kräftig und wärmend. Ich war so dankbar dafür, hier sitzen zu können, mit einem Glas Rotwein und mit Leuten, die mir beim Trinken Gesellschaft leisteten, dass ich einen Kloß in der Kehle spürte. So simple Freu den, aber in diesem Moment bedeuteten sie mir unend lich viel.
Das Essen kam, aufgetragen von dem Jungen, der auch den Wein eingeschenkt hatte. Es war Coq au vin, eins meiner Lieblingsgerichte. Winzige weiße Zwiebelchen schimmerten im Lampenschein wie Perlen, und ich schloss die Augen, atmete die Düfte ein. Während des Essens sagte ich die längste Zeit gar nichts, gab mich nur dem Sinnengenuss hin.
Die kanadischen Schwestern hingegen plauderten munter drauflos. Die Blonde, Nora, war sehr lebhaft und unterhielt uns mit Geschichten über ihre Arbeit in einem kanadischen Rotkreuzkrankenhaus, das auf den Tennisplätzen eines bei London lebenden reichen Amerikaners erbaut worden war. Anscheinend hatte dieser Mann, Waldorf Astor, das Grundstück der britischen Armee angeboten. Weil die Briten abgelehnt hatten, war es an die Kanadier gegangen. Die dunkelhaarige Schwester sprach weniger als Nora, hatte aber ein reizendes
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