Das Geheimnis der Herzen
interessierte mich nicht, ob die Situation mit Honoré Bourret kompliziert war oder ob die Lügerei nach Howletts Einschätzung mir zum Vorteil gereichen sollte! Und mein Vater war keinen Deut besser. Jahrelang hatte ich ihn für ein Opfer gehalten, einen Unschuldigen, der von der engstirnigen schottischen Gemeinde in Montreal verleumdet worden war, weil er es gewagt hatte, ehrgeizig zu sein, anders zu sein. Als Frau mit den gleichen Eigenschaften hatte ich mich mit ihm identifiziert.
Mein Vater hatte eine hochschwangere Ehefrau verlassen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche Folgen das für sie oder das ungeborene Kind haben würde. Er hatte mich verlassen, als ich noch keine fünf war. Und als ich fast fünfundvierzig Jahre später auf seiner Schwelle stand, hatte er sich erneut abgewandt und gelogen, um sich zu schützen. So ein Mann, das begriff ich jetzt, war vielleicht auch fähig, sich einer verkrüppelten Schwester zu entledigen, die eine immense Belastung für ihn bedeutete. Die Indizien waren da gewesen, aber ich hatte die Augen verschlossen.
Das französische Wort fille bedeutet nicht nur »Tochter«, sondern auch »Mädchen«. Gestern um diese Zeit war ich noch ein Mädchen mit großen Hoffnungen gewesen. Voll freudiger Erwartung hatte ich mich ins Labyrinth der Straßen begeben, war der dilettantisch gezeichneten Karte gefolgt, um ihn zu finden. So viel hatte ich mir von dieser Begegnung erhofft! In Wahrheit hatte ich natürlich die Mädchenjahre längst hinter mir gelassen. Ich war keine fille mehr, weder die von Honoré Bourret noch von sonst jemandem. Ich war neunundvierzig Jahre alt, und mein Leben hatte sein Fundament verloren. Ich dachte an die Fragmente meiner Existenz, die ich für meinen Vater gesammelt hatte. Ich hatte mich wie ein Schulmädchen benommen, das stolz seine Preise nach Hause schleppt. Jetzt erst begriff ich, was für eine klägliche Figur ich abgab. Garantiert würde er die Tasche einfach fortwerfen, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Kinderstimmen rissen mich aus meinen Gedanken, und ich merkte, dass ich schon sehr lange auf dem Pier stand. Der Strand war jetzt breiter und glatt, das Wasser hatte sich zurückgezogen. Die Sonne hatte die Wolkenschicht durchdrungen. Meeresvögel sonnten sich auf dem noch feuchten Sand. Ein paar Kinder spielten am Wasserrand – zwei acht- oder neunjährige Jungen und ein kleines Mädchen. Die Jungen ließen Steine übers Wasser hüpfen und verkündeten laut die Zahl der Sprünge, bevor die Steine versanken. Als ich die Treppe zum Strand hinunterging, grüßten sie mich. Der Älteste wünschte mir ein glückliches neues Jahr, und ich erwiderte den Wunsch.
Ich wusste nicht, was das kommende Jahr bringen würde, aber Glück erschien mir nicht besonders wahrscheinlich. Als ich zur Stadt zurückging, sah ich meine eigenen Fußabdrücke, die mir entgegenkamen, schon halb verwischt.
VIII
RÜCKKEHR
Das Leiden erlaubt keine Heilung, wohl aber Besserung und das Aufhalten der negativen Entwicklungstendenzen .
– MAUDE ABBOTT, »ANGEBORENE HERZFEHLER«
30
20. Januar 1919
M orgen wird es schön, hatten die Seeleute vorhergesagt – nach wochenlangem schlechtem Wetter fiel es mir schwer, ihnen zu glauben. Aber es sah tatsächlich so aus, als könnte meine Heimreise ganz anders verlaufen als die Überfahrt nach Europa. Diesmal hatten wir Rückenwind, und das Wasser war glatt und blau. Weit und breit keine Bö in Sicht. Wellen schwappten sanft gegen den Schiffsrumpf, und der Himmel war klar bis auf ein paar Wattewölkchen, die in der untergehenden Sonne leuchteten.
Frankreich war noch zu erkennen, wenn auch nicht mehr die einzelnen Gebäude und Häuser von Brest, der Hafenstadt, in die ich von Calais aus gefahren war und wo ich fast drei Wochen lang auf eine Schiffspassage nach Hause gewartet hatte. Die französische Küste war nur noch eine diffuse Linie, und bald würde sie ganz verschwunden sein. Ich wollte den Moment nicht verpassen, obwohl das angestrengte Spähen, das Bemühen, sie so lange wie irgend möglich festzuhalten, gar nicht leicht war.
Meine Reise war strapaziös gewesen. Vernünftigerweise hätte ich jetzt mit einem heißen Getränk und einem Buch drinnen sitzen sollen, wie es sich für eine Frau meines Alters gehörte, statt hier an Deck zu stehen und über das eisige Meer zu starren. Ich nahm die salzwasserbespritzte Brille ab und putzte sie kurz.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich wieder in
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