Das Geheimnis der Herzen
musste mich selbst zur Tür geleiten und mir meinen Mantel und die Stiefel reichen. Der Flur war eng, und wir standen keinen halben Meter voneinander entfernt, während ich mich anzog.
»Sie dürfen mit niemandem darüber sprechen«, sagte er leise.
An diesem Punkt hatte ich mich schon wieder etwas gefangen, oder zumindest glaubte ich das. »Worüber sollte ich sprechen?«, sagte ich, ebenfalls mit leiser Stimme, als hätten wir ein Geheimnis. »Wir kennen einander nicht.«
»Stimmt«, sagte er und lächelte.
Das waren unsere letzten Worte. Ich zitterte, als ich die Tür hinter mir zuzog. Er schloss mich abermals aus, so wie er vor Jahren meine Mutter und eine viel jüngere Version meiner selbst und noch früher seine verkrüppelte Schwester ausgeschlossen hatte. Erst als ich auf der Straße stand, merkte ich, dass ich die Tasche mit den Geschenken im Haus vergessen hatte. Ich wusste genau, wo sie stand, neben dem Sessel, auf dem ich gesessen hatte, doch um nichts in der Welt wäre ich zurückgegangen, um sie zu holen.
Es hatte angefangen zu schneien, nur leicht, aber die weißen Flocken legten sich über die Rue de Verel und all die anderen Straßen von Calais. Mein Vater hockte jetzt wahrscheinlich in der Küche und bemühte sich, mit Solange Frieden zu schließen. Die beiden würden sich an den Esstisch setzen, und irgendwann würde einer von ihnen ins Arbeitszimmer gehen und meine Tasche entdecken. Solange konnte das Material, das ich so sorgfältig verpackt und den weiten Weg hierhergebracht hatte, nicht deuten, und mein Vater vermochte nichts zu erkennen, selbst wenn er die Sachen in die Hände bekommen sollte.
29
1. Januar 1919
D er Neujahrsmorgen brach an, doch er war kaum von der Nacht zu unterscheiden. Die Hähne krähten, trotz des erdrückend schwarzen Himmels. Ich hatte nicht geschlafen, was zum Teil an der Begegnung mit meinem Vater lag, zum Teil an dem Lärm aus der Bar, die sich direkt unter meinem Zimmer befand. Das réveillon, also die Party am Silvesterabend, war ein großes Ereignis in der Auberge des Flots. Die alljährlich dort stattfindenden Festivitäten waren in Calais sehr berühmt, und nach dem Geräuschpegel zu urteilen, hatte die halbe Stadt auf ein Glas hereingeschaut.
Ich war trotz der Einladung meiner Wirtsleute oben in meinem Zimmer geblieben. Als Eugenie hörte, dass ich den Sekt, den ihr Mann mir spendieren wollte, ablehnte, lud sie mich ein, zu ihr und Charles in die Wohnung zu kommen und eine heiße Milch zu trinken. Nicht einmal das schaffte ich. Die ganze Nacht über saß ich allein in meinem Zimmer und weinte. In der Morgendämmerung zog ich mich an und ging nach unten. Die Bar sah aus, als wäre ein Wirbelsturm über sie hinweggefegt. Die Tische standen voller Gläser und Flaschen. Zwei Gestalten lagen ausgestreckt auf dem Fußboden. Ich tappte auf Zehenspitzen um sie herum, holte meine Stiefel und schlüpfte aus der Tür.
Diesmal brauchte ich keine Karte. Ich folgte einfach meiner Nase die Avenue de la Mer hinunter zum Wasser. Der Himmel hellte sich allmählich auf, aber abgesehen von den Möwen und Kormoranen, die mit schrillem Gekreisch über der Stadt kreisten, war ich das einzige Lebewesen. Ich ging zügig, den Wind im Rücken, und atmete den würzigen Salzgeruch ein. Vor Calais erstreckte sich ein langgezogener Sand strand, la plage Blériot, den ich bei der Landung von der Fähre aus bemerkt hatte. Darüber erhob sich ein großer Hotelbau, aber dieses Hotel war den Winter über geschlossen, seine Tü ren und Fenster waren verbarrikadiert.
Ich überquerte den Strand, mit dem vom Wind gewellten Sand, und erreichte den Pier, der in einem kleinen Turm endete. Dort blieb ich stehen. Gerade setzte die Ebbe ein, was mir nicht gleich auffiel. Ich hatte an Flüssen gelebt – dem schnell fließenden North River vor dem Grundstück meiner Großmutter in St. Andrews East, dem Sankt-Lorenz-Strom in Montreal. Das Meer roch anders, nach Salz und Seetang und Tiefseekreaturen. Lange stand ich nur da und starrte aufs Wasser hinaus.
In einer einzigen Woche hatte ich die beiden wichtigsten Männer meines Lebens verloren. Doch das Wort »verloren« traf es nicht ganz. Keiner der beiden war gestorben, und sie hatten beide seit Jahren keine äußerlich sichtbare Rolle in meinem Leben gespielt. Innerlich jedoch waren sie die Achse gewesen, um die sich alles drehte. Der Mittelpunkt. Nun war mir diese Mitte, meine Mitte, entglitten. Sir William Howlett hatte mich belogen. Es
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