Das Geheimnis der Herzen
reichte.
»Und was soll Laure tun, während Sie Agnes in die Geheimnisse der Naturkunde einführen?«, fragte Großmutter. »Sie haben doch selbst gesehen, wie empfindlich sie ist.«
»Laure braucht ja nicht mitzumachen. Wir können diese Arbeit von dem, was im Schulzimmer geschieht, getrennt halten. Agnes hat sich in der Scheune alles sehr geschickt eingerichtet.«
Wir benutzten die normale Teekanne und feine Porzellantassen. Ich war gerade bei meiner zweiten Scheibe Haferbrot, dick beschmiert mit Großmutters Himbeermarmelade. »Kauen, Agnes«, befahl Großmutter. »Du schlingst das Brot hinunter, als wärst du eine Boa Constrictor und kein menschliches Wesen.«
Sie wandte sich wieder an die Gouvernante. »Wie Sie sicher schon bemerkt haben, Miss Skerry, ist meine Enkelin in vielem noch ein Kind. Ich habe Sie eingestellt, damit Sie helfen, das zu ändern. Aber wenn Sie Agnes auch noch ermuntern, ganze Tage allein in der Scheune zu verbringen oder, schlimmer noch, draußen umherzustreifen und Dinge zu sammeln, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen, ist das bestimmt nicht hilfreich. Genauso wenig, wie es gut ist, ihr das Abschlachten von Eichhörnchen durchgehen zu lassen.«
»Ich habe es nicht abgeschlachtet«, wandte ich ein.
Laure maunzte wie ein Kätzchen, machte eine ruckartige Kopfbewegung und verschüttete Tee auf ihren Bademantel. Großmutter tupfte die Flüssigkeit auf und nahm Laure die Tasse ab. »Die hier hat ein Übermaß an Empfindlichkeit mitbekommen. Die andere so gut wie gar keine«, murmelte sie seufzend und setzte sich wieder hin.
»Soweit ich heute beobachten konnte«, sagte die Gouvernante, »ist auch Agnes höchst empfindlich. Sie hat ein Auge für Schönheit und eine geschickte Hand.« Unter ihrem Stuhl holte sie meine Schmetterlinge hervor. »Schauen Sie doch nur mal, Mrs White. Ihre ältere Enkelin verfügt über unglaubliche Begabungen.«
Großmutter nahm das Glas und starrte darauf. »Das hat Agnes gemacht?«
Miss Skerry sagte nichts. Großmutter fragte mich: »Du hast das selbst mit Nadel und Faden hinbekommen?«
Ich nickte, vergaß zu kauen und schluckte einen ganzen Brocken Brot hinunter.
»Aber sie verabscheut Nadelarbeit«, sagte Großmutter. »Sie würde ihr Kleid nicht einmal flicken, wenn ich sie dafür bezahlen würde.«
»Das hier sind Schmetterlinge, keine Kleider«, sagte die Gouvernante.
Jetzt lächelte Großmutter zum ersten Mal. »Das stimmt allerdings.«
»Aber Nadelarbeit ist Nadelarbeit«, sagte die Gouvernante. »Und hier ist der Beweis, dass sie es kann.«
Großmutter sagte nichts. Sie hob das Glas an und bewegte es ein bisschen, sodass die Schmetterlinge auf und ab tanzten. »Sie sind eine überzeugende Advokatin«, sagte sie zu Miss Skerry. »Und Sie haben recht. Die Schmetterlinge sind wunderhübsch und erstklassig befestigt.« Doch ihr Lächeln verschwand. »Trotzdem machen sie die Sache mit dem Eichhörnchen nicht ungeschehen. Schlimm genug, dass der Skandal um ihren Vater wie eine Wolke über uns hängt – wenn herauskommt, was sie in dieser Scheune anstellt, ist Agnes erledigt.«
»Erledigt?«, wiederholte Laure. Sie war gerade erst acht geworden und bekam oft nicht mit, worüber die Erwachsenen eigentlich sprachen.
»Das ist eine Redewendung«, erklärte die Gouvernante. »Mit deiner Schwester ist alles bestens, Laure. Glaub mir, es passiert ihr nichts Schlimmes.«
»Außer einem Dasein als alte Jungfer«, sagte Großmutter. Der Hals der Gouvernante wurde rot, und Großmutter senkte den Blick. »Verzeihen Sie, Georgina. Das war unangebracht. Aber Agnes ist schon unkonventionell genug, auch ohne zusätzliche Ermutigung. Welcher Mann will sie denn noch haben, wenn ich ihr diese Studien in der Scheune gestatte?«
Laure saß ganz still da, die Hausschuhe fest gegeneinander gepresst. »Vielleicht kommt der Mann, den sie mal heiratet, ja heute Abend, Grandma«, sagte sie mit ihrem süßen Stimmchen.
Miss Skerry war sichtlich verwirrt. Nicht einmal ich verstand, was Laure meinte, bis sie fragte, ob wir das Gedicht hören könnten. Sie wollte nett sein – vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil ich ihretwegen Ärger bekommen hatte.
Großmutter lächelte und tätschelte ihr das Knie. »Dich großzuziehen ist kein Problem, was, Laure?« Sie wandte sich an Miss Skerry. »Sie ist genau so, wie meine Tochter als kleines Mädchen war. Das gleiche sanfte Gemüt.«
»Heute ist Agnes’ Namenstag«, erklärte Laure. »Der zwanzigste Januar.
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