Das Geheimnis der Herzen
ängstlich.
»Nichts.« Ich versuchte mich zu erinnern, was ich am Abend gegessen hatte, fürchtete, es könnte vielleicht etwas Verdorbenes dabei gewesen sein. Mir war schon mal von Schweinefleisch schlecht geworden, aber da hatte die Übelkeit gleich nach dem Essen angefangen, und ich hatte mich ein paarmal heftig übergeben, bis das ganze Gift draußen war. Am Vorabend hatte ich nur Großmutters frisch gebackenes Brot mit Marmelade gegessen – harmlos, und ich war daran gewöhnt.
Laures Gesicht war kreidebleich. »Ich hole Grandma.«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich davon fast umkippte. »Ich muss nur mal.« Ich stand ein bisschen wacklig auf und ging sofort neben dem Bett in die Knie.
Ich zog den Nachttopf hervor und an eine Stelle neben der Kommode, wo mich meine Schwester nicht sehen konnte. Es war wie ein Fluss, als ich mich entleerte, wild und geräuschvoll. Als ich mein Nachthemd anhob und unter mich blickte, bekam ich den Schreck meines Lebens. Der Topfinhalt war rot.
Vielleicht hatte Laure ja recht. Vielleicht war ich wirklich verflucht. Oder ich war krank. Blut war oft ein Vorbote des Todes. Bei Mutter war es auch so gewesen. Bei ihr war das Blut aus dem Mund gekommen: die Klumpen, die sie aushustete, die Flecken auf den Kopfkissenbezügen. Laure und ich schliefen auf diesen Kopfkissenbezügen mit den schwachen rostroten Verfärbungen, die kein Reiben der Welt entfernen konnte. Lungentuberkulose war die Geißel der White-Frauen. Alle drei Töchter von Großmutter waren daran gestorben. Aber die White-Frauen waren eher gertenschlank und blass, ganz anders als ich. Und außerdem kam bei mir das Blut am falschen Ende heraus.
Ich trug den Nachttopf ans Fenster und kippte den Inhalt in den Garten hinaus. Kalte Luft drang ins Zimmer, und Laure quiekte. Sachen aus dem Fenster zu werfen war in der Priory nicht erlaubt, schon gar nicht, wenn es sich dabei um den Inhalt eines Nachttopfs handelte. Ich kannte die Vorschriften. Jeden Morgen musste ich unseren Nachttopf zum Klosetthäuschen hinaustragen, um ihn zu leeren. Dann streute ich Asche vom Ofen in das Loch, gegen den Geruch, und anschließend musste ich den Topf so sauber schrubben, dass es eine Sünde schien, ihn je wieder zu benutzen.
Ein bisschen Blut sickerte mein Bein hinab und tropfte rot und nass auf den Fußboden. Ich verschmierte es mit dem großen Zeh, presste die Beine zusammen und hüpfte zum Waschbecken.
Laure saß im Bett und beobachtete mich. »Was machst du?«
Ich antwortete nicht.
»Warum hopst du so?«
In dem Moment rief Großmutter herauf: »Kiin-der!« Ein Wort, in zwei Hälften zerteilt und aus voller Lunge gesungen wie ein Lied. Mittendrin erstarb ihre Stimme kurz, als ob das Formen der Laute sie daran erinnert hätte, wie anstrengend es war, zwei Enkeltöchter allein großzuziehen.
Ich wäre am liebsten wieder ins Bett gegangen und hätte Großmutter gesagt, ich sei krank, aber das ging nicht. Laure hatte sich noch einmal zurücksinken lassen und ihr Gesicht zum Glück im Kissen vergraben.
Ich musste mich anziehen. Mein Winterkleid war dunkelblau, da würde man die Flecken nicht sehen. Wegen Laure verkniff ich mir das Stöhnen. Ich brachte meine Kleider zum Bett.
»Was machst du denn da?«
»Mich anziehen.«
Ein Bein hatte ich schon durch das Beinloch der Bloomer-Hose gesteckt. Das andere wollte ich nicht anheben. Ich hatte mir ein Handtuch genommen, um das Blut aufzufangen, und versuchte, den Stoff jetzt mit den Oberschenkeln festzuklemmen. Aber plötzlich war es einfach zu viel, und ich kippte bäuchlings auf die Matratze.
Laure krabbelte über ihre Puppen hinweg und zeigte mit dem Finger auf den Boden. »Was ist das?«
Mein blutiges Handtuch lag dort. Ich hob es auf und wollte es verstecken, wusste aber, dass das nichts half. Laures Pupillen waren bereits so groß wie Penny-Münzen. Ihr Kinn zitterte.
»Nichts«, sagte ich matt.
Sie stieß einen Schrei aus, und schon kamen Großmutter und Miss Skerry die Treppe herauf und in unser Zimmer gestürzt.
Natürlich galt alle Aufmerksamkeit Laure. Die beiden beruhigten sie, verarzteten sie mit zwei Teelöffeln Brandy und packten sie wieder ins Bett. Aber auch dann wollte Großmutter nicht über die Sache mit meinem Blut reden. Laure hatte so lange davon gefaselt, dass mir schließlich nichts anderes übrig blieb, als unter mein Kleid zu greifen und das Handtuch hervorzuziehen. Seltsamerweise verzog Großmutter keine Miene. Sie schlug nur das Handtuch und meine
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