Das Geheimnis der Herzen
auch nicht schaden. Hat es schon funktioniert?«, fragte sie, und ihre Augen glänzten wie bei einem kleinen Mädchen. »Sei ehrlich«, ermahnte sie mich, »hast du je eine Vision gehabt?«
Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen. Jemand erschien Jahr für Jahr und schwebte in den ersten Stunden meines Namenstages über meinem Bett wie ein Geist, aber es war mit Sicherheit kein Freier. Seine Anwesenheit war ganz anders als das, was John Keats sich vorgestellt hatte.
In dem Moment kam Großmutter aus der Küche, mit einem Tablett zum Abräumen. »Bei mir hat es funktioniert, als ich jung war, Georgina. Sankt Agnes hat mir den Großvater der Mädchen mitgebracht.« Sie drückte mir das Tablett in die Hände. »Es funktioniert bei denjenigen, die wollen, dass es funktioniert. Das ist das Entscheidende. Es ist eine Frage der inneren Einstellung.«
In jener Nacht lag ich neben meiner Schwester, die leider die ärgerliche Angewohnheit hatte, in den Tiefschlaf zu fallen, sobald ihr Kopf das Kissen berührte. Laure lag auf dem Rücken, wie Keats es empfahl. Wenn ihre Augen offen gewesen wären, hätten sie also zum Himmel geschaut. Ihre Haare umglänzten sie auf dem Kissen wie gesponnenes Gold. Sie hätte Keats’ Heldin sein können, die auf ihren heimlichen Geliebten wartet.
Weil meine Hände unter der Decke kalt waren, dachte ich an den Beter aus dem Gedicht und die Rosenkranzperlen in seinen starren Fingern. Ich atmete im Dunkeln aus, und die Luft kam in Wölkchen heraus. Wie hatte Keats es ausgedrückt? »… dessen Atem dampfend jagte wie gottgefälligen Weihrauchs frommer Tanz.« Das gefiel mir.
Ich dachte, dass ich John Keats gern begegnet wäre. Er war ein sensibler Mensch gewesen. Er kannte das Verlangen, jene Art Verlangen, das einen zu gefährlichen Dingen trieb, sodass man das Risiko nicht scheute, verspottet und ausgeschimpft zu werden. Er war Mediziner gewesen wie mein Vater. Das hatte Miss Skerry gesagt, als Großmutter ans Bücherregal gegangen war. Also war es möglich, Romantiker zu sein und sich gleichzeitig in die Wissenschaft zu vertiefen?
Der Mond stand in meinem Fenster wie eine funkelnde Münze. Wie konnte irgendjemand schlafen, wenn es vom Himmel so hell leuchtete? Fast auf den Tag genau vor acht Jahren war mein Vater verschwunden, hatte uns alleingelassen, meine Mutter, mich und ein ungeborenes Kind, das sich als Laure entpuppte. Januar bedeutete für mich Abwesenheitsschmerz, und so würde es immer sein. Es tat zwar nicht mehr ganz so weh, aber solche Belustigungen, wie von Freiern und Hochzeitsglocken zu träumen, erschienen mir immer noch unangebracht. Das war mein letzter Gedanke, bevor ich in einen tiefen Schlaf glitt.
3
A ls ich am nächsten Morgen aufwachte, war es im Zimmer schon hell. Ich hatte auf meiner Seite des Bettes gelegen und war, als ich mich umdrehte, auf etwas Hartem gelandet – einer Puppe meiner Schwester. Insgesamt drei Puppen klemmten in der Ritze zwischen Laures und meiner Matratze. Sie stammten aus England, und meine Schwester liebte sie heiß und innig. Ihre Köpfe waren aus Wachs, die Körper aus Holz. Jeden Abend deckte Laure sie gut zu und küsste sie auf die glatten Wangen, die jetzt schon etwas altersgrau wurden, und jeden Morgen waren die Puppen irgendwo im Bett verteilt. Ich wachte oft davon auf, dass mich eine hölzerne Hand oder ein Fuß in den Rücken pikten.
Doch an diesem Morgen wurde das Piken und Drücken von neuen Empfindungen verdrängt. Sobald ich den Kopf drehte, wurde mir übel. Bauchschmerzen zwangen mich, die Knie an die Brust zu ziehen. Ich hielt den Atem an, so weh tat es. Ich lag mit dem Rücken zu Laure und blickte aus dem Fenster. Großmutter war schon unten in der Küche und klapperte mit Töpfen und Holzscheiten.
Es fühlte sich an, als würde jemand mit großen, plumpen Fingern in mir herumstochern. Sofort musste ich an das Eichhörnchen denken. Ich hatte von ihm geträumt, fiel mir ein. Am Sankt Agnes’ Abend war meine Vision ein totes Eich hörnchen gewesen.
Laure trat mich in den Rücken. »Hörst du endlich auf?«
Ich merkte, dass ich im Liegen mit dem Oberkörper schaukelte, und setzte mich auf, aber davon wurden die Schmerzen nur schlimmer.
Laure setzte sich ebenfalls. »Du hast die ganze Nacht gestöhnt, Agnes. Ist dir schlecht, weil du das Tier aufgeschnitten hast? Ist dir davon schlecht geworden?«
Ich schüttelte den Kopf, und schon von dieser kleinen Bewegung wurde mir schwindelig.
»Was ist?« Laures Gesicht war
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