Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
»Ich würde nicht im Traum daran denken …«
Die Hofrätin hob die Augenbrauen. »Es wäre aber nur natürlich. Sie kennen mich doch nicht und wissen nichts von
mir außer der Tatsache, dass ich mit einer merkwürdigen Anzeige nach einem ganz bestimmten Mädchen suche. Einer Anzeige, die jeder vernünftige Mensch mit einem entgeisterten Lachen zur Seite gelegt hätte. Daher sollten Sie sich über mich erkundigen. Ich an Ihrer Stelle würde es tun. Oder wollen Sie Ihr Misstrauen bestreiten? Ich konnte es Ihnen an der Nase ablesen.«
Wemke stieg die Röte ins Gesicht. »Sie haben Recht«, gab sie zu. »Ich habe mich gefürchtet. Und auf die Anzeige nur aus einer Notlage heraus reagiert. Und natürlich wüsste ich gerne, worum es sich bei der Stellung handelt.«
»Ich werde gerne Rede und Antwort stehen, doch zunächst einmal brauchen wir etwas Gemütlichkeit. Gerlind«, rief sie nach ihrem Mädchen, »wir würden gerne eine Tasse Tee trinken und möchten auch etwas von dem Mürbegebäck.«
»Gerne, Frau Hofrätin.« Gerlind knickste und verschwand. Wemke spürte, dass das Dienstmädchen von der Bitte überrascht war. Hatte die Hofrätin mit den anderen Bewerberinnen keinen Tee getrunken? Doch es blieb keine Zeit für weitere Überlegungen. Nachdem sich die Tür hinter Gerlind geschlossen hatte, musterte die Hofrätin Wemke sehr aufmerksam. Was sie sah, schien ihre Billigung zu finden, denn ein zufriedener Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
»So, und nun möchte ich eine ehrliche Antwort von Ihnen. Warum sind Sie gekommen? Was gab den Ausschlag? War es das Versprechen von Sicherheit? Oder waren es Geldsorgen, die Sie dazu zwangen? Sie sprachen von einer Notlage.« Die Hofrätin verzog spöttisch den Mund. »Ich habe am heutigen Tage sehr viele junge hübsche Frauen kennengelernt, die sich für Geld nur zu gerne in einen goldenen Käfig schließen lassen wollten. Sie waren alle gleich.« Sie schwieg einen Moment und legte den Zeigefinger an die Nase. »Alle gleich unpassend!«, schloss sie dann. »Doch Sie scheinen mir anders zu sein.«
Die letzten Worte drangen nicht mehr bis an Wemkes Ohr, denn ein übermächtiges Gefühl der Empörung hatte von ihr Besitz ergriffen. Die Hofrätin hielt sie für geldgierig! Am liebsten wäre sie sofort aufgesprungen und gegangen, doch ihre strenge Erziehung hielt sie zurück. »Ich habe kein Verlangen nach einem goldenen Käfig.« Ihre Stimme zitterte leicht, doch sie streckte angriffslustig das Kinn vor. »Nicht um Reichtum für mich selbst geht es mir.«
»Aha«, bemerkte die Hofrätin. »Für wen denn, wenn ich fragen darf?«
»In Ihrer Annonce stand, dass Angehörige willkommen sind.« Wemke befeuchtete die trockenen Lippen. »Ich habe eine Schwester, für die ich sorgen muss. Es ist ein wenig schwierig mit ihr, zumindest im Moment.« Wemke stockte. »Sie ist tagsüber in einem Hort untergebracht, doch nun sind die Kosten dort gestiegen und meine Wohnung wurde mir gekündigt.« Sie holte tief Atem und sah auf ihre im Schoß liegenden Hände. »Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen. Um nichts in der Welt möchte ich mich von Freya trennen und suche daher verzweifelt einen Ort, wo ich mit ihr leben kann. Ich würde alles dafür tun, wirklich alles. Deshalb habe ich mich beworben.«
Für einen Augenblick herrschte ein unbehagliches Schweigen im Raum. Die Hofrätin schien überrascht von Wemkes Erklärung und betrachtete sie nachdenklich aus zusammengekniffenen Augen.
Die Stille wurde von Gerlind unterbrochen, die einen kleinen beladenen Teewagen ins Zimmer rollte. Während das Dienstmädchen Geschirr aufdeckte, wand sich Wemke unter dem Blick der Hofrätin. Sie fühlte sich unwohl, fast ein wenig bedroht, wie eine Maus sich fühlen musste, die von einer Eule erspäht wurde.
»So ist das also. Eine Schwester ist der Grund.« Die Stimme der Hofrätin klang zögerlich und ein wenig verwundert. »Hatte
ich also doch Recht. Sie sind anders. Sie müssen verstehen, dass mich die anderen Bewerber misstrauisch gemacht haben. Jede gab zu, durch das Versprechen von finanzieller Unabhängigkeit angelockt worden zu sein. Dennoch merkte ich nur zu rasch, dass alle Tugenden, derer sie sich rühmten, so falsch waren wie die Farbe ihrer Lippen und Wangen. Ich mag älter sein, aber noch nicht weltfremd.« Sie beugte sich ganz nahe zu Wemke vor. »Und ich weiß sehr wohl, was ich will! Doch jetzt, mein Kind, wollen wir uns bei einer Tasse Tee noch einmal ganz in Ruhe unterhalten.«
Die Hofrätin goss
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