Das Geheimnis der Inselrose - Historischer Roman
Moment nicht weiterzugehen. Gerade war ihr ein Gedanke gekommen, den sie bisher völlig außer Acht gelassen hatte, und nun schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Niemandem hatte sie von ihrem Vorhaben erzählt. Was, wenn der unbekannte Inserent sie nun entführen würde? Einem Schwall von Übelkeit gleich stieg die Furcht in ihr auf und hinterließ auf ihrer Zunge einen säuerlichen Geschmack. Wemke schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte die bösen Gedanken abzuschütteln.
Schwerfällig ratternd holperte eine Kutsche vorbei und brachte sie in die Gegenwart zurück. Ein Windstoß ließ die alten Ledervorhänge zur Seite flattern und Wemke konnte einen Blick auf die Insassen der Kutsche erhaschen. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen winkte ihr lächelnd zu. Wemke erwiderte den Gruß und holte tief Luft. Sie musste an Freya denken und die Angst zur Seite schieben!
Kurz darauf kam sie atemlos und zitternd beim Gasthaus an
und bat den Wirt, ihrem unbekannten Gesprächspartner ihr Erscheinen mitzuteilen. Mit Beschämung nahm Wemke die verstohlenen Blicke wahr, mit denen man sie musterte. Das Gasthauspersonal schien mit den Umständen vertraut und war wohl begierig darauf, jeden in Augenschein zu nehmen, der dumm genug war, sich hier einzufinden.
Der Wirt kehrte zurück, und auf sein Zeichen hin folgte ihm Wemke mit schwankenden Schritten. Sie gingen einen mit Teppichen ausgelegten Gang entlang, an dessen Ende der Wirt stehen blieb. »Hier ist es. Viel Glück.« Er nickte ihr noch einmal zu und wandte sich dann zum Gehen. Wemke brachte kein Wort heraus, und als sie dann doch wieder sprechen konnte, war der Wirt schon verschwunden.
Zögernd stand sie vor der verschlossenen Tür. Sie hob die Hand, um anzuklopfen, doch dann verließ sie der Mut. Geschichten schossen ihr durch den Kopf, von Mädchen, die verschwunden waren und von denen niemand jemals wieder etwas gehört hatte. Kalter Schweiß brach ihr aus. Es musste einen anderen Weg geben, um ihrer Notlage zu entkommen. Fast hätte sie in letzter Sekunde die Flucht ergriffen, doch dann sah sie im Geiste Freya vor sich, als eines von vielen ärmlich gekleideten, unglücklichen Geschöpfen in einem Kinderheim.
»Du bist nicht einmal ihre Mutter«, hämmerte es in Wemkes Kopf. »Du wirst sie hergeben müssen!« Dies war Antrieb genug. Wemke atmete noch einmal tief durch und klopfte an.
Es war, als habe man schon auf sie gewartet. Keine Sekunde nach ihrem Klopfen wurde die Tür von einem Dienstmädchen geöffnet, das mit unbeteiligter Miene zur Seite glitt, um sie hereinzulassen. Wemke betrat mit einem flauen Gefühl das Zimmer. Am Fenster stand eine schlanke Gestalt, die sich jetzt umwandte und sie voller Interesse betrachtete.
»Fräulein Jacobs, nehme ich an?« Wemke brachte nur ein Nicken zustande. »Bitte setzen Sie sich doch.«
Die Dame wies auf eine Sitzgruppe, bestehend aus einem runden Tisch und zwei Sesseln. Wemke erkannte sofort, wie kostbar die Möbel und Stoffe waren. Ihre Gesprächspartnerin konnte nicht unvermögend sein, wenn es ihr möglich war, in diesem teuren Hotel zu übernachten. Außerdem schien dieses Zimmer nur einen Teil der Räumlichkeiten auszumachen, die sie angemietet hatte.
Wemke setzte sich zaghaft auf den ihr zugewiesenen Platz und nahm die Dame in Augenschein. Sie mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein, sah aber immer noch sehr gut aus. Die Züge des schmalen Gesichts waren fein und ebenmäßig, und das von grauen Strähnen durchzogene Haar trug sie zu einem vornehmen Knoten aufgesteckt. Dies war keine Frau, die ihre Tage mit harter körperlicher Arbeit verbrachte. Kraft und Entschlossenheit gingen von ihr aus, als sie sich mit einer eleganten Bewegung in den gegenüberliegenden Sessel gleiten ließ. Dunkle Augen blickten Wemke durchdringend an, doch dann verzog sich der schmale Mund zu einem freundlichen Lächeln. Wemkes Angst und Anspannung verflogen, als sie merkte, dass ihre Gesprächspartnerin selbst nach Worten rang. Sie lächelte ihr ermutigend zu.
»Zunächst einmal möchte ich mich Ihnen vorstellen«, begann die Fremde schließlich. »Ich bin Josefine Bartling, die Frau des Hofrates der Seebadeanstalt Wangerooge. Mein Mann bildet zusammen mit unserem sehr verehrten Herrn Badearzt Dr. Hoffmann das Direktorium.« Sie bedachte Wemke mit einem schnellen Blick. »Dies alles erzähle ich nur, falls Sie im Anschluss an unser Gespräch Erkundigungen über mich einziehen wollen.«
Wemke hob abwehrend die Hand.
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