Das Geheimnis der Krähentochter
den Baumwipfeln, um sich dann auf einigen
Ästen wieder niederzulassen.
Völlig verblüfft nahm Bernina den beseelten Blick wahr, mit dem
Cornix alles verfolgte.
Nach ein paar Momenten tiefer Ruhe richteten sich die Augen der
Krähenfrau auf Bernina. »Starr mich nicht so an. Ich sagte doch, die Krähen
sind meine einzigen Freunde.«
Bernina entging nicht, dass gerade etwas an der rätselhaften Frau
war, das sie vorher nicht an ihr wahrgenommen hatte. »Ich glaube, dass ich dich
noch nie so erfreut gesehen habe wie beim Auftauchen dieser Vögel. Fast schon
glücklich.«
»Glücklich?«, meinte Cornix gleich wieder zurückhaltender. »Ach
was.« Und dann, als sie auf die schräg in rostigen Angeln hängende Tür der
Hütte zuschritt, setzte sie mit wiederum veränderter Stimme hinzu: »Wirklich
glücklich bin ich nur, wenn es dir gut geht.«
Noch erstaunter als zuvor sah Bernina auf. Mit einer solchen
Antwort hätte sie niemals gerechnet. »Weshalb liegt dir so viel an mir?«,
beeilte sie sich zu fragen, damit die vertrautere Stimmung sich nicht gleich
wieder auflöste.
»Ach, du warst immer so nett zu mir, Kindchen.« Die Krähenfrau tat
die Frage mit einem bemüht gleichgültigen Achselzucken ab und stieß die Tür
auf. »Hast mir immer was zugesteckt. Einen Apfel, was auch immer. Du hast ein
gutes Herz, deshalb liegt mir etwas an dir.«
Bernina runzelte die Stirn, musste aber auch lächeln. Sicher, sie
war netter zu dieser Eigenbrötlerin gewesen als andere, und dennoch war das
nicht der Grund für Cornix’ Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Das merkte
sie deutlich.
Allerdings auch, dass weitere Fragen nichts bringen würden. Sie
erkannte das an dem erneut veränderten Gesichtsausdruck der Frau, die nun
wieder all ihre Verschlossenheit demonstrierte und unter leisen
Selbstgesprächen begann, das erloschene Feuer in ihrer Hütte mit
Schwefelhölzern und Zunderschwamm neu zu entfachen.
»Meinst du nicht«, sprach Bernina die Krähenfrau erst später beim
Essen wieder an, »dass jemand auf einem der umliegenden Höfe eine Magd brauchen
könnte?«
»Kindchen, fang doch nicht schon wieder damit an.«
»Dir ist klar, dass ich darüber nachdenken muss.«
»Gut, lass mich dir einen Vorschlag machen.« Cornix nahm Bernina
die mittlerweile leere Holzschale aus der Hand, um sie nachzufüllen. »Während
du dich hier bei mir ausruhst, geh ich los, um mich umzuhören. Du weißt ja,
meine Ohren sind überall und erfahren alles Mögliche, auch wo es Arbeit gibt.
Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen. Du weißt ja, in welchen Zeiten wir
leben.«
Bernina setzte sich auf ihre Schlafstelle und betrachtete im
Schein des Feuers wieder einmal die vielen Symbole, die ins Holz der Wände
eingeritzt worden waren und die von den Flammen flackernd angestrahlt wurden.
»Dieser höllische Krieg«, fuhr Cornix unterdessen fort. »Alles
zerstört er. Wenig Arbeit, keine Ernten, keine Freude. Nichts als Gewalt und
Hunger und Furcht.«
Langsam erhob sich Bernina. Eines der Symbole besah sie sich nun
ganz besonders genau. Zwischen Halbmonden und Sternen, unter angedeuteten
Vögeln und einem Dreizack, über einigen züngelnden Flammen prangte ein Zeichen,
das sie zuvor im Hauptgebäude des Hofes gesehen hatte. Das Schwert mit der
Blume.
Sie trat ganz nahe an die Wand heran und fuhr die offenbar mit
Sorgfalt eingeritzten Linien mit ihrem Zeigefinger nach.
»Was bedeutet das?«
»Ach, die Monde und diese Sachen. Achte nicht darauf. Diese
Symbole helfen, böse Geister von meiner Hütte fernzuhalten.«
»Ich meine dieses bestimmte Zeichen hier. Blume und Schwert. Es
sieht irgendwie anders aus als die anderen.«
»So, so, das meinst du«, hörte Bernina in ihrem Rücken Cornix’
betont unbeteiligte Stimme.
Bernina drehte sich um und sah ihr in die Augen. Doch darin lag etwas,
das wieder einmal nicht zu deuten war. Ganz kurz nur, dann senkte die
Krähenfrau den Blick.
»Ja, das meine ich«, sagte Bernina daher etwas nachdrücklicher,
als sie eigentlich beabsichtigte. »Blume und Schwert. Was steckt dahinter?«
»Was es damit auf sich hat, das weiß ich selbst nicht«, erwiderte
Cornix. »Ich habe diese Hütte vor vielen Jahren entdeckt. Sie war fast völlig
verfallen und ich habe sie wieder hergerichtet. Das Zeichen war damals schon in
die Wand eingeritzt. Es bedeutet gar nichts. Die anderen Symbole, die sind von
mir. Sie haben ihren Sinn. Aber das kann ich dir nicht einfach auf die Schnelle
erklären.« Sie lachte kurz
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