Das Geheimnis der Krähentochter
Hof zu Hof, von einer Ansiedlung zur nächsten und behandelte in
abgelegenen Scheunen Erkrankte. Die Bauernmärkte bis nach Offenburg besuchte
sie, und manchmal wurde der Weg weit und sie blieb über Nacht fort.
Allein in der Hütte zu sein, fühlte sich eigenartig an. Eine noch
gespenstischere Atmosphäre als sonst machte sich dann in der engen Behausung
breit, gerade nachts, wenn niemand da war, um Bernina nach einem schlechten
Traum zu beruhigen. Doch es gab auch zahlreiche Momente, in denen Bernina das
Alleinsein genoss. Gelegentlich verspürte sie den Drang, noch einmal den Hof
und das geheimnisvolle Zimmer aufzusuchen. Aber das tat sie dann lieber nicht.
Die Schrecken des Überfalls wirkten eben doch noch nach und unterdrückten ihre
Neugier.
Auch wenn sie nicht wusste, was sie nun mit sich anfangen sollte,
fand sie sich zunächst damit ab, erst einmal abzuwarten, bevor sie in ein neues
Leben stürmte. Wie sie es Cornix versprochen hatte, ruhte sie sich aus. Es
galt, neue Kraft zu gewinnen.
Während Bernina anfangs noch von der Krähenfrau begleitet worden
war, die ihr zeigte, welche Kräuter es wert waren, gesammelt zu werden, strich
sie inzwischen oft allein durch die Wälder, wobei sie die verwüsteten Gebäude
des Petersthal-Hofes weiterhin mied.
Bernina hatte rasch gelernt, sich zurechtzufinden und viele
Pflanzen, die sich auf einmal in ziemlicher Geschwindigkeit der Sonne
entgegenrankten, zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Sie verwechselte
Giersch, den Cornix bei Gichtkranken einsetzte, nicht mehr mit einigen seiner
fast gleich aussehenden giftigen Doppelgänger. Und sie wusste, in welchen Wiesen
der erste Feigwurz des Jahres zu finden war, wo sie auf Gundermann, Vogelmiere,
Bärlauch, verschiedene Kressearten und vor allem Pimpinelle stieß, die nach
Cornix’ Ansicht gegen viele Krankheiten half.
Nach ihren Abstechern zu den Höfen und Dörfern setzte sich die
Krähenfrau immer mit Bernina zusammen ans Hüttenfeuer, um Kräutertee zu trinken
und von dem zu erzählen, was sie gehört hatte, was hier und da geredet wurde.
Was Cornix zu berichten hatte, klang alles andere als ermutigend. Der Krieg war
allgegenwärtig, stärker und gewaltiger als zuvor, breitete sich aus wie eine
Krankheit, brachte Ströme von Blut und trieb die Menschen in panischer Angst
vor sich her.
An eine Anstellung als Magd war laut Cornix im Moment nicht zu
denken. »Niemand bietet Arbeit an«, sagte sie und schlürfte ihren Tee, während
Bernina auf ihrer Schlafstelle saß, das Kinn auf die Knie gebettet, den Blick
verloren auf die eingeritzten Symbole an der Wand geheftet. »Jeder ist vollauf
damit beschäftigt«, fuhr die Krähenfrau fort, »die eigene Haut zu retten. Ich
war im Dorf. Stell dir vor, es ist zu einem Dorf der Geister geworden.«
Mit dem Dorf war eine kleine Ansiedlung gemeint, Teichdorf, die
einzige Ortschaft, die Bernina bislang wirklich vertraut war.
»Ein Dorf der Geister?«, wiederholte sie nachdenklich.
»Ja, es ist völlig verlassen. Leere Häuser, leere Straßen, ein
leerer Brunnen, in dem kein Wasser mehr gefördert wird.«
»Warum verlassen?«
»Aus nackter Angst, mein Kind. Alles, was die Leute auf Wagen oder
den Rücken packen konnten, wurde mitgenommen. Sie sind nach Ippenheim
geflüchtet. Die Stadt quillt über vor Menschen. Ich war da, habe es mit meinen
eigenen Augen gesehen. Ippenheim wurde in eine wahre Festung verwandelt.«
Cornix’ Stimme kroch zischend durch die Hütte. Sie redete immer
weiter, sichtlich entsetzt über das, was sie auf ihren Streifzügen vorgefunden
hatte. »Da es in Ippenheim keine Stadtmauer gibt, hat man versucht, eine Art
Schutzwall zu schaffen. Aus Wagen, Baumstämmen, aus allem Möglichen. Dieser
Wall wird bewacht. Auch andere wichtige Punkte in der Umgebung sind
ununterbrochen von Wachmännern besetzt.«
»Das hört sich ja schlimm an.«
»Die Leute beten nicht mehr nur zu Gott, sondern rufen sogar
Dämonen um Hilfe an.«
»Du immer mit deinen Dämonen und Geistern und Teufeln.«
»Merk dir, mein Kind, Dämonen sind überall.«
»Die armen Menschen in Ippenheim.«
»Das kannst du wohl sagen. Die Angst, die Not. Und überall in der
Stadt stinkt es. Zu viele Menschen auf zu engem Raum bedeuten zu viele Ratten.
Und damit zu viele Krankheiten.«
»Vor wem hat man so große Angst?«
»Vor den Truppen Arnims von der Tauber, die immer weiter aus
Norden auf uns zurücken. Sein gesamtes Heer besteht aus Söldnern, die nicht
einmal in der Hölle die
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