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Das Geheimnis der Krähentochter

Das Geheimnis der Krähentochter

Titel: Das Geheimnis der Krähentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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auf. »Um in die Welt jener Zeichen einzutauchen,
braucht es Jahre.«
    »Das Schwert mit der Blume habe ich auch im Hof gesehen. In diesem
seltsamen Zimmer mit all den Büchern.«
    »Wer weiß schon, was das sein soll? Vielleicht das Überbleibsel
eines längst vergessenen Ritterwappens.«
    Bernina hörte aus den Worten heraus, dass Cornix das Gespräch
beenden wollte. Was mag diese Frau alles wissen?, fragte sie sich insgeheim.
Aber sie gab sich für den Moment zufrieden und versuchte nicht weiter in sie zu
dringen.
    Bisher war der Petersthal-Hof für Bernina immer nur ein großer
Bauernhof gewesen, etwas abgeschieden, aber dadurch auch vor der Welt
geschützt. Jetzt allerdings wuchs eine Ahnung in ihr, dass die zu Ruinen
gewordenen Gebäude ihre ganz eigenen Geheimnisse bewahrten. Es war nicht mehr
als ein vager Eindruck. Und er war genau in jenem Moment über Bernina gekommen,
als sie das Zimmer mit den Büchern betreten hatte und auf die Truhe gestoßen
war.
    »Also, was hältst du von meinem Vorschlag?«, wollte Cornix nach
einer Weile wissen. »Ich höre mich um, wo es Arbeit gibt, und du bleibst in der
Zwischenzeit hier.«
    »Einverstanden.« Berninas Blick suchte die Augen der Krähenfrau.
»Du wirst mir doch auch bestimmt sagen, wenn du etwas hörst, das für mich
infrage kommt.«
    Cornix legte ihre Hand auf die Brust. »Ich verspreche es dir,
Bernina.«
    Es war das erste Mal, dass sie Berninas Namen aussprach, und wie
sie das tat, so weich und zart, als würden ihre Lippen das Wort streicheln,
überhörte Bernina keineswegs. Es gibt da etwas, das du mir verschweigst, dachte
sie dennoch insgeheim. Nicht nur der Petersthal-Hof, auch die Krähenfrau hatte
ihre Geheimnisse, das wurde ihr immer stärker bewusst.
    Bernina machte es sich auf der Schlafstelle bequem, und wieder
beschlich sie ein sonderbares Gefühl. Mit einem Erschauern spürte sie, dass das
Vergangene nicht abgeschlossen, nicht tot war, sondern dass es vielmehr
weiterlebte, hier in dieser Hütte zu schweben schien, rätselhaft und
bedrohlich, unsichtbar und dennoch deutlich fühlbar.
     
    *
     
    Der Reiter in Schwarz, der Mann mit den Eiskristallaugen und den
silbernen Haarsträhnen, tauchte noch oft auf, eine hoch aufragende Gestalt auf
einem dunklen Pferd, umhüllt von weißen Nebelfetzen. Manchmal sah Bernina ihn
kurz zwischen den Bäumen, während sie dabei war, wilde Kräuter zu sammeln, dann
wieder, wenn sie einen flüchtigen Blick aus dem mit einem Stück Tuch halb verhängten
Fenster der Hütte warf.
    Am häufigsten suchte er sie allerdings nachts heim, im Schlaf, in
fürchterlichen Träumen, in denen sie rannte, um sich vor dem Degen des Reiters
zu schützen, der ihre Verfolgung aufgenommen hatte und seine kalten Blicke hart
in ihren Rücken grub.
    Immer, wenn sie aus einem solchen Albtraum hochschreckte, ganz
egal ob um Mitternacht oder im fahl wabernden Licht eines langsam
heraufziehenden Morgens, sah Bernina als Erstes die hockende Gestalt der
Krähenfrau, die stets an ihrer Seite war, als könnte sie es vorhersehen, wann
der Mann wieder erscheinen würde. Sie war wie ein Wachposten, der niemals
Schlaf nötig zu haben schien, der jederzeit bereit war einzugreifen. Mit leiser
Stimme erklärte sie dann, dass alles vorbei, dass alles bloß ein schlimmer
Traum gewesen sei.
    So beruhigend ihre Worte auch jedes Mal sein mochten, lag doch
auch etwas Unheimliches in der Art, wie die Frau dasaß, die Beine unter ihrem
Körper und ihren Umhängen verborgen, die Augen so wach und geistesgegenwärtig wie
jene des mysteriösen Reiters.
    Während die Tage wärmer wurden, wehten nachts noch immer kalte
Winde durch den Wald, kämpften sich zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch und
rissen an den schwachen Wänden der Hütte. Oft lag Bernina wach und lauschte den
Böen und dem Krächzen der Krähen, die sich seit ihrem ersten Auftauchen nahezu
jeden Tag sehen ließen. Auch sie wirkten auf gewisse Art wie Wachposten, deren
Augen Bernina schon erwarteten, wenn sie morgens aus der Hütte trat.
    Die Krähenfrau hielt sich seltener in der Hütte auf als in den
ersten Tagen nach dem Überfall. Zuerst widerstrebte es ihr, Bernina allein zu
lassen, doch die drängte sie dazu. »Du kannst mich schließlich nicht
ununterbrochen bewachen«, stellte sie klar. »Nimm deinen Alltag wieder auf,
sonst bekomme ich wirklich ein schlechtes Gewissen.« Und so war die Frau nun
wieder öfter unterwegs, genau wie früher. Sie wanderte mit ihren Wurzeln und
Kräutern von

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