Das Geheimnis der Krähentochter
auf ein paar Tage gewiss
nicht ankommt. Ja, es gibt ein Ziel für mich. Aber ich werde erst dorthin
aufbrechen, wenn Sie sich erholt haben.«
Wieder sein sanftes Lächeln. »Meine liebe Bernina, das könnte
allzu lange dauern. Geduld passt nicht zu jungen Menschen, schon gar nicht zu
einem wissbegierigen Wesen wie Ihnen. Vergeuden Sie Ihre Zeit nicht mit einem
alten Mann wie mir. Brechen Sie auf, und wenn Sie das erreicht haben, was Sie
wollen, können Sie ja einen Abstecher hierher machen. Und wer weiß, vielleicht
bin ich sogar noch kräftig genug, Sie in meine alten Arme zu schließen.«
Bernina konnte nicht anders. Sie wollte sie aufhalten, doch die
Tränen waren übermächtig und rannen ihr bereits die Wangen hinab.
»Nicht weinen, mein Kind. Sehen Sie es wie ich, und freuen Sie
sich, dass wir uns überhaupt begegnet sind.«
Bernina vermochte nichts zu sagen, sie nickte nur kaum merklich
und presste die Lippen aufeinander.
»Ach ja, mein Kind, bevor ich es vergesse:
Eine Sache wollte ich Ihnen noch mitteilen. Schon in meinem Lazarett in
Offenburg lag es mir auf der Zunge, aber wir wurden unterbrochen.« Poppel
verlagerte seinen Oberkörper ein wenig zur Seite, ohne Berninas Hand
loszulassen. Auf seiner Stirn stand Schweiß. »Sie erinnern sich gewiss noch,
dass wir uns einmal über den Petersthal-Hof unterhielten. Ich erzählte Ihnen,
dass ich schon von diesem Hof gehört hatte – allerdings nur höchst bizarre
Dinge.«
»Ich erinnere mich, ja.« Sie nickte ihm zu, obwohl sie überrascht
war, dass er auf einmal davon anfing.
»Dass ein sonderbarer Untoter insgeheim über den Hof geherrscht
haben soll. Dass dort gespenstische Zeremonien mit allerlei geheimnisvollen
Ritualen abgehalten würden.«
»Sicher, Herr Poppel, ich weiß es noch gut, aber Sie sollten sich
nicht so anstrengen.«
»Ach, lassen Sie nur. Ich bin ja erleichtert, dass mein Mundwerk
und mein Gedächtnis noch recht ordentlich ihren Dienst verrichten. Wenn schon
mein Körper nicht mehr will.« Er grinste und zwinkerte mit erschöpften Augen.
»Jedenfalls habe ich inzwischen wiederum einiges über den Petersthal-Hof
aufgeschnappt. Gerade in der Gegend um Offenburg scheint sein Name vielen
Leuten ein Begriff zu sein. Und was ich diesmal hörte, war weniger bizarr. Es
ging um Wolfram Vogt. Bernina, Sie kannten diesen Mann, wie ich annehme.«
»Selbstverständlich. Er war sehr nett zu mir. Ein überaus gütiger
Mensch.«
»Zweifellos. Bloß schienen die Leute immer schon überrascht zu
sein, dass ein einfacher, recht ungebildeter Bauer wie er einen derart großen
Hof besitzen konnte. Vogt war doch der Besitzer des Petersthal-Hofes, nicht
wahr?«
»Ja, des Hofes und der ganzen umliegenden Gegend.«
»Nun ja, es muss keineswegs stimmen: Aber einige der Offenburger
Bürger, mit denen ich mich unterhielt, wenn sie etwa Essen brachten für die
Verwundeten oder in einem Wirtshaus in der Nähe des Lazaretts, die waren der
Meinung, dass Wolfram Vogt nur dank irgendeiner Betrügerei an den Hof
herangekommen sein konnte.«
Mit kurz aufflammender Entrüstung sagte Bernina: »Das sind
bestimmt nur gemeine Lügen. Wolfram Vogt war ein Beispiel an Anständigkeit.«
Poppel drückte ihre Hand. »Wie gesagt, das äußerten ja nur einige.
Andere wiederum waren der Ansicht, dass der Hof jenem Wolfram Vogt eben doch nicht
gehörte, sondern sich der wahre Besitzer im Hintergrund hielt, weil er etwas zu
verbergen hatte. Vogt sollte nur für die Öffentlichkeit als Hofherr gelten.«
»Ein unbekannter Besitzer?«, wunderte sich Bernina. »Das halte ich
doch für ziemlich abwegig.«
»Ich behaupte auch nicht, dass es wahr ist.«
»Warum wollten Sie mir das unbedingt erzählen, Herr Poppel?«
Er ließ ihre Hand los und winkte kurz ab. »Ehrlich gesagt, weiß
ich das selbst nicht so genau. Aber irgendwie kam mir der verrückte Gedanke,
das könnte vielleicht eines Tages wichtig für Sie sein.«
»Wer weiß …« meinte Bernina nachdenklich. »Also, vor allem
das mit diesem unbekannten Besitzer, daran will ich einfach nicht glauben. Wer
sollte das denn sein?«
Poppel lachte leise auf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Der
mysteriöse Untote vielleicht?«
Danach herrschte Schweigen im Zimmer. Poppel lag flach auf dem
Rücken, in einem seltsamen Halbschlaf dahindämmernd, bleich, schwitzend und
frierend zugleich. Er atmete mühsam.
Fast den ganzen Vormittag suchte Bernina die Wiesen und Waldstücke
in der Umgebung nach Kräutern ab, die ihm
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